Nachrichten Europa und Frankreichs neuer Präsident

Lässt Macron den Traum der Erasmus-Generation wahr werden?

Wenn es überhaupt jemanden gibt, der den Glauben an die Vision eines föderalistischen Europas erneuern kann, dann ist es Frankreichs neuer Präsident.

Veröffentlicht am 25 Mai 2017 um 09:51

Es ist anderthalb Jahre her, dass ich in der Residenz des französischen Botschafters in London gemeinsam mit ca. einem weiteren Dutzend Reporter zu Mittag aß. Der Gastredner war Frankreichs damaliger Wirtschaftsminister Emmanuel Macron, der über den Ärmelkanal angereist war, um die Bedeutung seines Landes als Investitionsstandort für Banken und Hochtechnologieunternehmen zu verdeutlichen.
Was mir am stärksten in Bezug auf diesen Mann, der am 7. Mai zu Frankreichs jüngstem Präsidenten aller Zeiten gewählt wurde, im Gedächtnis geblieben ist, war nicht in erster Linie sein grenzenloser Ehrgeiz oder seine streberhafte Akribie. Vielmehr beeindruckte mich, dass er sich öffentlich zu seiner Liebe zu Europa bekannte, die im Folgejahr eines der entscheidendsten Themen seines Präsidentschaftswahlkampfes sein sollte.
In einer Zeit, in der die Ressentiments gegenüber Brüssel zunahmen, wirkte Macron wie jemand, der aus der Zeit vor der Krise zu uns gereist ist. Mit 39 Jahren gilt er als das herausragendste Symbol der „Erasmus-Generation“ – benannt nach dem prestigeträchtigen Studentenaustauschprogramm der Europäischen Union, das es Studenten ermöglicht, ein Jahr in einem anderen EU-Mitgliedsstaat zu verbringen. Die mittlerweile Mittdreißiger bis Mittvierziger, diese gut ausgebildeten jungen Fachkräfte, verdanken ihren erfolgreichen beruflichen Werdegang und ihren großen Freundes- und Bekanntenkreis den offenen EU-Grenzen. Viele von ihnen klammern sich an föderalistische Träume; in der Hoffnung, dass die EU irgendwann einmal eher als Vereinigte Staaten von Europa wahrgenommen wird.
Als Inhaber des höchsten Staatsamtes bietet sich Macron nun die Gelegenheit, den Traum dieser Generation wahr werden zu lassen. Er muss hierfür zwei Hürden überwinden. Zum einen Deutschland davon zu überzeugen, die Folgen einer stärkeren Einbeziehung der Euroländer zu akzeptieren. Zum anderen den Trend der Euroskepsis aufzuhalten, der sich inmitten genau der Jugendlichen, welche die EU mit Enthusiasmus betrachtet hatten, zunehmend ausbreitet. Dies sind anspruchsvolle Aufgaben.
Doch falls es jemanden gibt, der diese Hürden überwinden kann, so ist das Macron. Er stellt sich die Euroländer als einheitliche Fiskalunion vor, unter der Führung eines Finanzministers, der einen gemeinsamen Haushalt verwaltet und für das Europäische Parlament verantwortlich zeichnet. Dieses Konzept – von dessen Notwendigkeit viele Ökonomen in Bezug auf das Fortbestehen der Währungsunion überzeugt sind – stößt in Deutschland auf heftigen Gegenwind. Spitzenpolitiker aus Berlin befürchten, dass schwächere Mitgliedsstaaten das Geld deutscher Steuerzahler für gestiegene Ausgaben verwenden könnten statt nach einer Lösung zu suchen, wie die eigene Wettbewerbsfähigkeit verbessert werden kann. Bundeskanzlerin Merkel gratulierte Macron zwar zu seinem Wahlsieg, verdeutlichte ihm jedoch, dass sie nicht die Absicht habe, die für die Euroländer geltenden strengen Finanzregeln zu lockern.
Macron hat glücklicherweise erkannt, dass eine Transferunion, die aus stärkeren Geberländern und schwächeren Nehmerländern besteht, nur auf Grundlage von Kompromissen funktioniert. „Man kann nicht behaupten, man sei für ein starkes Europa, aber nur über meine Leiche, wenn es um eine Transferunion geht … oder um Reformen für mein Land“, teilte er uns während eines Mittagessens in London mit. Seine Argumentation steht im deutlichen Widerspruch zur Ansicht mehrerer europäischer Regierungschefs, die sich für eine Reform der EU einsetzen. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Matteo Renzi setzte sich gegen eine stärkere Aufsicht aus Brüssel über die Etats der EU-Mitgliedsstaaten zur Wehr und bat gleichzeitig um einen „flexibleren“ Etat zur Erhöhung der laufenden Staatsausgaben – so holt man die Deutschen wohl kaum ins Boot.
Die andere Herausforderung, der sich Frankreichs neuer Präsident stellen muss, wird es sein, die Jugend Europas davon zu überzeugen, dass der Traum der Erasmus-Generation erstrebenswert ist. Macron gewann die Präsidentenwahl in der Stichwahl mit einem 2:1-Vorsprung und erhielt die Mehrheit aller Stimmen in jeder einzelnen Altersgruppe. Allerdings schnitt seine euroskeptische Gegenkandidatin Marine Le Pen bei den jüngeren Wählern und den Wählern mittleren Alters sehr viel besser ab. Ein entscheidender Faktor scheint der Frust der jüngeren Wähler über den Mangel an gut bezahlten Arbeitsplätzen gewesen zu sein. Diese Wut hat auch andere populistische Parteien in Europa einen Zulauf erfahren lassen, angefangen bei der Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, wo sich die Jugendarbeitslosigkeit auf mehr als 35 Prozent beläuft.
Macron scheint genau im richtigen Augenblick auf der Bildfläche erschienen zu sein. Die Wirtschaft der Euroländer erfreut sich eines leichten Aufschwungs, der erst noch so richtig in Schwung kommen könnte, da die Kapitalgeber sich bezüglich des Risikos einer euroskeptischen Präsidentin im Élysée-Palast nicht weiter zu sorgen brauchen. Ein zunehmendes Wirtschaftswachstum sollte die Jugendarbeitslosigkeit sinken lassen und auf diese Weise die Zustimmung in Bezug auf die EU erhöhen.
Selbstverständlich könnte man sich aus vielerlei Gründen den Kopf darüber zerbrechen, ob Macron sein ambitioniertes Wahlprogramm auch nur ansatzweise in die Tat umsetzen kann. Er könnte eine Mehrheit in den im nächsten Monat stattfindenden Parlamentswahlen verfehlen, was seinen ehrgeizigen nationalen Reformplänen einen Dämpfer verpassen könnte. Deutschland könnte sich hartnäckig weigern zu kooperieren. zu kooperieren. Eine neue Wirtschaftskrise in einem Land wie Italien könnte den Aufschwung schlagartig beenden.
Wenn es jedoch je einen Augenblick gegeben hat, die Eurozone mit Zuversicht zu betrachten, so ist es dieser. Es scheint, die Erasmus-Generation ist erwachsen geworden.

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Aus dem Englischen vom Michael Kegel

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