Opinion, ideas, initiatives Französische Präsidentschaftswahl

Auf dem Weg in eine politische Revolution?

Der Aufstieg von Marine Le Pen und Emmanuel Macron im Vorfeld der französischen Präsidentschaftswahlen spiegelt eine weitreichendere Unzufriedenheit mit dem politischen System des Landes wider. Steht Frankreich am Rande eines politischen Durchbruchs, der die alte Gegnerschaft zwischen Konservativen und Sozialisten durch eine Kluft zwischen Nationalisten und Internationalisten ersetzen wird?

Veröffentlicht am 23 April 2017 um 09:36

Nur wenige Amtszeiten waren politisch so unergiebig wie diejenige des scheidenden französischen Präsidenten François Hollande. Der Sozialist hatte sich im Wahlkampf als Feind der „Finanzwelt“ präsentiert und versprochen, die Arbeitslosigkeit nach der Wirtschaftskrise zu senken. Fünf Jahre später ist von alledem nicht viel geblieben. Hinsichtlich der Wirtschaftspolitik kann man von einer fast vollständigen Stagnation unter Präsident François Hollande sprechen. Das beste Wort für ein Fazit ist wohl „Autopilot“.
Die französischen Sozialisten haben sich in ihren Widersprüchen verfangen: die berauschenden Versprechungen im Wahlkampf sind eine Sache, im Amt zu sein und vor den schwierigen Realitäten der steigenden Staatsschulden und der sinkenden Wettbewerbsfähigkeit Frankreichs zu stehen eine ganz andere. Wie das Projekt „Sustainable Governance Indicators (SGI)“ der Bertelsmann-Stiftung in seinem letzten Bericht für Frankreich hervorhebt: „Wie seine Vorgänger hat auch Präsident Hollande die notwendigen Reformen nicht vollständig und vorbehaltlos umgesetzt, sondern eher widerwillig und verstohlen, während er gleichzeitig die Illusion aufrechterhielt, der Staat sei in der Lage, die Märkte zu kontrollieren und die Wirtschaft zu lenken.“
Infolgedessen schwankte die Regierung zwischen sozialistischen Maßnahmen, die die Wirtschaft schädigten, und halbherzigen liberalen Reformen. Nach vier Jahren im Amt schaffte Hollande es endlich, sein so genanntes Loi Travail (Arbeitsgesetz) zu verabschieden, welches das Einstellen und Kündigen von Arbeitnehmern etwas erleichtert, dessen Auswirkungen aber noch unklar sind. Das SGI meint dazu: „Das Land steht vor drängenden strukturellen Problemen wie beispielsweise einem starren Arbeitsmarkt, hohen Arbeitslosenquoten, steigenden Schulden und mangelnder Wettbewerbsfähigkeit.“
Währenddessen schaffte es Frankreich nicht, sein Haushaltsdefizit unter das offizielle Ziel der Eurozone von 3 Prozent des BIP zu senken. Die Arbeitslosenquote bleibt bei fast 10 Prozent und ist noch immer höher als bei Hollandes Amtsantritt 2012. Das Wirtschaftswachstum verzeichnete wieder ein schwaches Wachstum, jedoch eher aufgrund politischer Änderungen auf europäischer Ebene als in Frankreich.
Die Eurozone hat sich nach der Krise wirksam auf einen neuen, zögernden politischen Konsens zwischen den Keynesianern und Ordoliberalen geeinigt: die Europäische Zentralbank stimuliert die Wirtschaft mit Hunderten Milliarden Euro und überzeugt die Märkte, dass die europäischen Regierungen noch nicht in Konkurs gehen, und die Europäische Kommission hat ihre Haltung gegenüber der Defizitfinanzierung (weder Konjunkturmaßnahmen noch Sparkurs) etwas gelockert. Mit seinem typischen Humor merkte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker an: Frankreich wurde mehr Zeit gegeben, um seine Defizitziele zu erfüllen, „weil es Frankreich ist.“

Die alte Kluft zwischen Rechts und Links

In Sachen Politik dagegen scheint nach drei Jahrzehnten, in denen sich Sozialisten und Konservative an der Macht abwechselten, endlich eine große Veränderung im Gange zu sein. Neu ist nicht die nationalistische Kandidatin, Marine Le Pen. Sicher, der Front National hat nach einem langsamen und unruhigen Aufstieg seit den 1980er Jahren beispiellose Höhen erklommen. 2017 ist fast selbstverständlich, dass Le Pen die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen erreichen wird, während dies 2002, als ihr Vater dasselbe schaffte, noch als nationales Trauma betrachtet wurde. Aber Marine Le Pen vereint nur rund ein Viertel der Wähler auf sich und ihre scharfe Kritik ist in der französischen Politik nichts Neues.
Die wirkliche Neuheit ist der seltsame und kometenhafte Aufstieg von Emmanuel Macron, einem ehemaligen Investmentbanker und Wirtschaftsminister in der sozialistischen Regierung (entscheidend ist, dass er selbst kein Parteimitglied war). Er bewirbt sich nun als unabhängiger Kandidat. Macron hat gute Chancen, den konservativen Kandidaten zu schlagen, der ansonsten der natürliche Nachfolger von Hollande wäre. François Fillon hat aber unter Korruptionsskandalen gelitten. Der sozialistische Kandidat Benoît Hamon vertritt eine Wende nach links und hat exotische Maßnahmen wie ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine Steuer auf Roboter vorgeschlagen. Seine Umfragewerte sind abgestürzt und der extrem links stehende Jean-Luc Mélenchon könnte ihn schlagen.
Macron erfuhr begeisterte Unterstützung von vielen Mitgliedern des französischen Establishments, darunter der rechtsliberale Alain Minc, Intellektuelle wie Bernard-Henri Lévy und Jacques Attali, Zeitungs- und Mode-Mogul Pierre Bergé, dem linksgrünen Daniel Cohn-Bendit und sogar dem ehemaligen Führer der französischen Kommunisten Robert Hue. Eine seltsame Koalition, könnte man meinen, aber sie zeigt die Frustration vieler Franzosen mit der alten Zweierherrschaft der Konservativen und der Sozialisten.
Alle anderen wichtigen Kandidaten sind entweder gegen die EU oder haben sich verpflichtet, die3-Prozent-Defizitregel zu verletzen, einzig Macron verteidigt das europäische Projekt vehement. Er lobte die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür, dass sie über eine Million Migranten in Europa willkommen geheißen hat. Es besteht Hoffnung, dass unter seiner Führung der alte deutsch-französische Motor wiederbelebt und die EU wieder auf den richtigen Pfad gebracht werden könnte.

Macron vage, Marine Le Pen unwahrscheinlich

Aber es gibt auch Zeichen von Schwäche. Macron unterstützt die Schaffung eines Eurozonen-Parlaments und -Haushalts, das die Politik im einheitlichen Währungsraum führen soll – das tat sein Mentor Hollande auch. Kritiker haben Macron Unbestimmtheit vorgeworfen und tatsächlich hat er erst im vergangenen Monat ein politisches Programm vorgestellt. Es enthält Versprechungen zur Steigerung der Kaufkraft von Arbeitnehmern und Strafen für Unternehmen, die übermäßigen Gebrauch von befristeten Arbeitsverträgen machen. Was auch immer die Vorzüge dieser Maßnahmen sein mögen, sie würden Frankreichs Finanzen und Wettbewerbsfähigkeit wahrscheinlich schaden. Ferner stehen nach der Präsidentschaftswahl Parlamentswahlen an und es ist überhaupt nicht klar, wer dann eine Mehrheit gewinnen wird und ob diese Mehrheit gut mit einem Präsidenten Macron zusammenarbeiten würde.
Trotz des Schocks nach dem Brexit-Referendum und der Wahl von US-Präsident Donald Trump scheint ein Sieg von Le Pen bei den französischen Wahlen noch immer sehr unwahrscheinlich. Einfach gesagt mögen die meisten Franzosen ihre aggressive Ausdrucksweise und ihr revolutionäres Programm nicht, das einen Ausstieg aus der Eurozone enthält – mit allen wirtschaftlichen Unsicherheiten, die dies mit sich brächte. Macron oder Fillon scheinen die wahrscheinlichsten Gewinner zu sein.
Frankreichs Situation ist keineswegs katastrophal. Die mittelmäßige Entwicklung des Landes entspricht so ziemlich der gesamten Eurozone, etwas besser als Italien, erheblich schlechter als Deutschland. Wirtschaftlich lebt Frankreich schon seit fast drei Jahrzehnten mit zweistelliger Arbeitslosigkeit und widerwilligen Reformen. Politisch stehen wir möglicherweise an der Schwelle zu einem Durchbruch, der die alte Kluft zwischen Konservativen und Sozialisten durch den Gegensatz zwischen Nationalisten und Internationalisten ersetzt. Andererseits hieß es in der französischen Politik schon oft: Plus ça change, plus c’est la même chose ! (Je mehr sich die Dinge ändern, desto mehr bleibt alles beim Alten!)

Aus dem Englischen von Heike Kurtz, DVÜD

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