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Die Vermerkelung Europas

Angela Merkel gilt als die Mächtigste unter den Staats- und Regierungschef der EU. In drei Bereichen lässt sich erkennen, wie sich die europäische Union in den zwölf Jahren ihrer Kanzlerschaft entwickelt hat.

Veröffentlicht am 22 September 2017 um 22:11

Es war nicht der schlechteste Start, den man in Brüssel erwischen kann. Als "neuer Stern im europäischen Banner" huldigte die "Berliner Zeitung" Angela Merkel nach ihrem ersten EU-Gipfel im Dezember 2005. Die "Welt" attestierte der Kanzlerin "erstaunliche Gewandtheit" bei der Umsetzung ihrer Europapolitik. Die "Financial Times" erklärte die EU-Novizin, erst seit wenigen Wochen Kanzlerin, schon zur "Lady Europa".

Dabei hatten sich die Staats- und Regierungschefs eigentlich nur darauf geeinigt, was sie in den kommenden EU-Haushalt einzahlen: etwas mehr als ein Prozent der Wirtschaftsleistung ihrer Länder. Es war ein typischer Brüsseler Minimalkompromiss: Das Schlimmste wurde verhindert, viele drängende Fragen aber aufgeschoben - etwa der Abbau der horrenden Agrarbeihilfen oder eine gemeinsame Wirtschafts-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Dennoch schien nach dem Gipfel kein Lob zu groß. "Unsere Kanzlerin rettet EU-Gipfel fast im Alleingang" jubelte die "Bild"-Zeitung und fragte: "Warum kriegt Merkel am Ende immer, was sie will?"

Das haben sich seitdem viele gefragt. Im Juli 2015 setzte sich Merkel beim entscheidenden Gipfel zum [Griechenland-Schuldendrama(4953343) mit ihrer Linie der harten Sparpolitik durch. Die Kanzlerin, so schien es, stand im Zenit ihrer Macht - und fühlte stark genug, kurz darauf die europäischen Partner auch in der Flüchtlingskrise auf ihren Kurs zu bringen.

Doch ausgerechnet bei dem Thema, das die sonst so kühl agierende Merkel zur Herzensangelegenheit erklärte, stieß sie an ihre Grenzen. Nahezu ohne Abstimmung mit den anderen Mitgliedsländern öffnete sie im Sommer 2015 Deutschlands Grenzen - und hoffte, dass es nachher zu einer Einigung über die Verteilung der Flüchtlinge innerhalb der EU kommt. Doch ein Regierungschef nach dem anderen versagte Merkel die Gefolgschaft, während sie an den Grenzen die Flüchtlinge nach Deutschland durchwinken ließen. Das Ergebnis: Die weitaus meisten Asylanträge entfielen auf Deutschland.

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Anschließend griff Merkel zu einer bewährten Taktik: Sie fügte sich ins Unvermeidliche und erregte dabei so wenig Aufsehen wie möglich. In diesem Fall bedeutete das, eine radikale rhetorische Wende zu vermeiden, in der realen Politik aber auf die Linie der Migrations-Hardliner einzuschwenken: Die Grenzen wurden geschlossen. EU-Beamte gestehen hinter vorgehaltener Hand inzwischen zähneknirschend ein, dass Ungarns rechtskonservativer Regierungschef Viktor Orbán sich gegen Merkel durchgesetzt hat.

Das Ergebnis: Während die Zahl der Asylanträge im vergangenen Jahr noch gestiegen ist, vor allem wegen der oft monatelangen Bearbeitungsdauer, ist die Zahl der Neuankömmlinge in Deutschland stark zurückgegangen.

Tausende Menschen, die sich trotz abgelehnten Asylantrags noch in Deutschland befinden, will die Bundesregierung darüber hinaus in einer "nationalen Kraftanstrengung" in ihre Heimatländer abschieben. Bisher zumindest war Deutschland im Vergleich zur restlichen EU hier eher zurückhaltend:

Allerdings lassen neuere Zahlen erkennen, dass die Kraftanstrengung zumindest bisher eine überschaubare Wirkung hatte. Ein starker Anstieg bei den Abschiebungen ist bisher nicht zu verzeichnen:

Die Nachwirkungen der Grenzöffnung von 2015 aber lassen sich in aktuellen Wahlumfragen besichtigen. Die AfD wird womöglich mit einem zweistelligen Ergebnis ins Parlament einziehen - und Merkel muss sich den Vorwurf gefallen lassen, den Aufstieg der Rechtspopulisten mit ihrer Flüchtlingspolitik begünstigt zu haben.

Ein weiterer Vorwurf an Merkel lautete, mit ihrer harten Sparpolitik gegenüber Südeuropa die Spaltung der EU zu betreiben. Diese Kritik ist deutlich leiser geworden, seitdem die Wirtschaft auch in ehemaligen Krisenländern wie Portugal und Spanien wieder anzieht und selbst Griechenland sich wieder selbst auf den Märkten mit Geld versorgen kann.

In einem anderen Punkt aber dürfte die Kritik an Deutschland künftig lauter werden: bei der Handelsbilanz.

So positiv diese Zahlen für sich genommen aussehen, so problematisch sind sie, wenn man sie im EU-Vergleich betrachtet. Deutschlands Leistungsbilanz weißt einen massiven Exportüberschuss aus, der schon vor 15 Jahren weit über allen anderen EU-Staaten liegt. In den vergangenen Jahren hat sich der Abstand weiter vergrößert:

Für dieses Ungleichgewicht wird Deutschland international immer heftiger kritisiert. Doch hierzulande wird das Problem erst als solches wahrgenommen, seit US-Präsident Donald Trump Beschimpfungen und Drohungen ausstößt. Zwar werden Nachrichten von neuen Exportrekorden auch in Deutschland mitunter sorgenvoll kommentiert. Doch eine Änderung ist nicht in Sicht: Im vergangenen Jahr lag der Exportüberschuss bei rund 300 Milliarden Dollar, womit Deutschland weltweit auf Platz eins liegt - deutlich vor China, dessen Leistungsbilanzüberschuss in den kommenden Jahren nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zudem sinken wird. Der deutsche Überschuss aber dürfte weiter steigen.

In einem weiteren Punkt hat Berlin die Klagen aus dem Ausland dagegen erhört: Deutschlands Verteidigungsausgaben steigen. 2014 hatten die Nato-Mitgliedsländer auf dem Gipfel in Wales angekündigt, die Wehretats bis zum Jahr 2020 auf zwei Prozent ihres Bruttoinlandprodukts (BIP) zu erhöhen. Im EU-Vergleich zeigt sich, dass Deutschland in dieser Disziplin mit seinem Wert von 1,2 Prozent weit von einer Führungsrolle entfernt ist:

Das Wirtschaftswachstum wird auch hier zum Problem für die Bundesregierung: In absoluten Zahlen steigen die Ausgaben für die Bundeswehr zwar, ihr Anteil am ebenfalls steigenden BIP blieb aber nahezu stabil. Eine Erhöhung auf zwei Prozent hätte eine Anhebung der Ausgaben von derzeit 37 Milliarden auf rund 70 Milliarden Euro zur Folge. Zum Vergleich: Frankreichs Wehretat beträgt derzeit 40 Milliarden Euro, und darin ist bereits ein teures Atomwaffenarsenal enthalten. Selbst Russland gibt umgerechnet nur 60 Milliarden Euro pro Jahr für seine Streitkräfte aus.

Entsprechend groß ist die Skepsis etwa bei Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) gegenüber dem Zwei-Prozent-Ziel, und selbst innerhalb von Merkels CDU gibt es große Bedenken. Eines lautet, dass die EU-Partner alles andere als begeistert wären, wenn Deutschland nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein militärisches Schwergewicht im Zentrum der EU wäre. Das Vertrauen Europas, so fürchten manche, hat auch nach zwölf Jahren Merkel Grenzen.

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Cet article est publié en partenariat avec the European Data Journalism Network

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