König Konsens

Die Arbeitsweise des Europaparlament zeichnet sich durch seine Kompromisskultur aus. Um gegenüber Kommission und Rat an Bedeutung zu gewinnen, bemühen sich die Abgeordneten um Einigkeit vor dem Votum und springen dabei über politische Klüfte.

Veröffentlicht am 28 Mai 2009 um 15:44

Ende 2006 beenden die Europaabgeordneten eine der heftigsten Kontroversen der Legislaturperiode und verabschieden eine veränderte Fassung der Bolkestein-Richtlinie über die Liberalisierung der Dienstleistungen. Die französischen Sozialisten sprechen sich an diesem Tag strikt gegen die Synthese einer deutsche Sozialistin aus und grenzen sich somit von ihrer Fraktion ab. Seither wird der Ausgang dieser Auseinandersetzung in den Jahrbüchern aufbewart, obwohl er doch eine weitgehend unbekannte Facette des Europäischen Parlaments veranschaulicht: einer Institution mit einer beachtlichen Kompromisskultur, die so manchen nationalen Traditionen oft fremd, und aus diesem Grund nicht vor nationalen Hintergedanken gefeiht ist.

Erklären lässt sich diese Janusköpfigkeit auf unterschiedliche Art und Weise. Qualität der Kraftstoffe, Regelungen der Telekom-Anstalten, Sicherheitsnormen: Die Abgeordneten beratschlagen über eine Vielzahl von technischen Themen, für die sich im Hintergrund vor allem die Lobbyistenbataillone begeistern, die ihren Sitz im europäischen Viertel Brüssels haben.

Vor allem werden die Abstimmen, selbst die politischsten, erst nach einer langen Arbeitsphase der Absprache und Verständigung zwischen den Institutionen abgegeben, deren Funktionsweisen nicht aufeinander abgestimmt sind. Beispielweise muss das Parlament sich mit dem Rat einigen, in dem die einzelnen Mitgliedsstaaten versammelt sind, und der daher von den Reaktionen zwischen den einzelnen Regierungen dominiert wird. Die Europäische Kommission wiederum besteht aus Vertretern der Linken und Rechten, die darum bemüht sind, überparteiliche Entscheidungen zu treffen. Der parlamentarische Assistent und Lehrbeauftragte an der Hochschule für Politikwissenschaft in Paris (Sciences-Po), Florent Saint Martin, erklärt: "Die Arbeitsweise des Parlaments wurde nie von Mehrheiten oder stabilen Koalitionen bestimmt." 2008 erhielten seiner Meinung nach neun von zehn Abstimmungen mindestens 80 % der Abgeordnetenstimmen. Olivier Costa, Forscher der Französischen Forschungsgesellschaft (CNRS) und Mitverfasser (mit Saint Martin) eines aktuellen Buches über das Europäische Parlament (Le Parlement européen, La Documentation française, April 2009, 12 Euros), analysiert die Situation wie folgt: "Dieser Zusammenhalt ist es, der den Abgeordneten erlaubt, sich gegenüber dem Rat und der Kommission zu behaupten".

Auf der Suche nach Konsens zeigen die Europäische Volkspartei, die Sozialisten und die Liberalen als die unumgänglichen drei wichtigsten parlamentarischen Gruppen übrigens eine interne Kohäsionsquote von über 85 %, wie es die von Forschern der Freien Universität Brüssels und der London School of Economics gestaltete Internetseite VoteWatch.eu zeigt.

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Dennoch kann auch diese besondere Funktionsweise der Institutionen nicht die heftigen Wortwechsel und Auseinandersetzungen verhindern, die anlässlich emblematischer Texte einer Legislaturperiode geführt werden. Die Bolkestein-Richtlinie, die REACH-Chemikalien-Richtlinie, das Scheitern einer gütlichen Einigung über die Arbeitszeit, das Klimapaket und die neue Immigrationsrichtlinie: sie alle ließen die gewohnten Uneinigkeiten zwischen völlig gegensätzlichen Meinungen wieder aufleben, bevor es zu einem Kompromiss kam, über den anschließend abgestimmt wurde. Wie es Saint Martin beschreibt, sind "wirtschaftliche und soziale Fragen, die Umwelt und die Immigration" immer wieder "Themen, über die die Linke und die Rechte streiten".

Obendrein ist es nicht allein der Druck aus dem Herkunftsland Schuld am zerbrechlichen Zusammenhalt der großen Fraktionen. Während der Abstimmungssitzungen "verfügen die Abgeordneten oft über eine doppelte Wahlliste: Diejenige ihrer Partei und diejenige ihrer Landesregierung", beschreibt ein mit der Beobachtung der parlamentarischen Wortgefechte beauftragter Diplomat, und weist ebenso darauf hin, dass man dabei keinesfalls die Arbeit der Lobbyisten vergessen darf.

Anlässlich der wichtigen Debatten lassen einige in Brüssel sitzende permanente Vertreter der Mitgliedsstaaten ihren Landsleuten so genannte „Rahmennotizen“ zukommen, die ihnen die eine oder andere Position nahe legen. Die Abgeordneten haben dann die Freiheit zu entscheiden, ob sie diesen Argumenten folgen oder nicht.

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