Bild: PE, Bryan Wright, STRK3

Die menschliche Natur im Kapitalismus

Um weltweite Probleme wie den Klimawandel und die Wirtschaftskrise lösen zu können, müssen wir zunächst einmal unser marktorientiertes Selbstverständnis als habgierige und erfolgshungrige Individuen über Bord werfen, meint der Autor Jeremy Seabrook in The Guardian.

Veröffentlicht am 24 September 2009 um 14:25
Bild: PE, Bryan Wright, STRK3

Puritaner und Moralisten sind davon überzeugt, dass konsumorientiertes Denken, die Kultur der Boni, die gewinnsüchtige Gesellschaft und die leb-im-heute-und-zahl-einfach-später-Philosophie Zeichen von "Habgier" sind. Wie alle anderen Sünden und Laster haben die sich entwickelnden Moralvorstellungen des Kapitalismus jedoch auch diese in ihrem Sinne umgestaltet. Viele der Dinge, die man einst als menschliche Fehler betrachtete, wurden einfach in wirtschaftliche Tugenden umgewandelt. Aus Habgier machte man Ehrgeiz, unter Neid versteht man nun das Vorhandensein eines gesunden Kampfgeistes, Völlerei ist einzig und allein das natürliche Bedürfnis nach immer mehr, und Wollust der absolut notwendige Ausdruck unserer tiefgehenden menschlichen Wirklichkeit. Der Versuchung sollte man keinesfalls mehr widerstehen. Vielmehr ist es nun unsere Pflicht, dieser im Namen eines der höchsten Zwecke – des "Verbrauchervertrauens" – nachzugeben.

Wenn das, was wir in einem primitiveren Zeitalter als negative Eigenschaften betrachtet haben, uns nun – auf magische verwandelt – als wahrhaftige Tugenden verkauft werden, dann ist es auch nicht mehr allzu schwer, uns davon zu überzeugen, dass diese Dinge zu unserer menschlichen Natur gehören. Damit erteilt man uns sozusagen die Erlaubnis, unbescheiden, zügellos und habgierig zu sein. Die Moralvorstellungen von Wirtschaftswachstum und Erweiterung sind in unsere Psyche eingedrungen. Tief in uns drin, wo wir Menschen täglich mit dem Problem kämpfen, wie wir gute Menschen sein können, herrschen diese neuen Ideen nun als ultimative Offenbarungen dessen, was es heißt, wirklich menschlich zu sein. Von dieser makaberen Beschreibung dessen, was "wirklich" menschlich sein soll, ist der Erfolg unserer Industriegesellschaften abhängig. Der erste Grundsatz dieses Glaubensbekenntnisses zum Kapitalismus lautet: "Die menschliche Natur ist unveränderbar." Gelinde gesagt erkennt man dadurch die traurige "Wahrheit" an, die besagt, dass das menschliche Wesen "grundlegend" selbstsüchtig und faktisch somit unwiderruflich "gefallen" ist.

Der krankhafte Wunsch nach dem Unerreichbaren

Wenn sich der erste Kapitalismus-Grundsatz noch mit der Unveränderlichkeit der menschlichen Natur befasste, so ähnelt der zweite einer unerbittlichen Neuauflage der Ideen von Vorherrschaft und Ausbeutung des Restes der natürlichen Welt. Das grundlegende Verständnis von Natur besagt demnach, dass man sie sich unendlich gefügig machen kann, dass man sie nutzen und immer in den Dienst des jeweiligen Zweckes stellen kann, den sich die "Menschheit" gerade ausgedacht hat. Ganze Kontinente konnte man dadurch bezwingen, ganze Wälder abholzen, Wasserläufe umlenken, der Erde sämtliche Schätze entziehen, und aus den Meeren so viele Fische fangen, bis ganze Arten ausstarben. Allein die menschliche – und unbesiegbare – Natur triumphierte darüber.

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Die Überzeugung, dass die Natur uns gehört, wenn man sie (aus)nutzen will, aber dass die menschliche Natur sich eventuellen Veränderungen gegenüber vollkommen verschlossen verhält, hat weltweit zu den verschiedensten Krisen geführt: Klimawandel, die wachsende soziale Ungleichheit, und der (als weniger wichtig betrachtete, aber vielleicht bedeutender, als wir glauben) alles durchdringende, dem Untergang geweihte krankhafte Wunsch nach dem Unerreichbaren. Heute hat man offiziell anerkannt, dass Eingriffe in die Biosphäre (zu denen man nun einmal neigt, wenn man immer mehr Fortschritt will) und die sich häufenden Auswirkungen des menschlichen Handelns einen direkten Einfluss auf die weltweite Erderwärmung haben. Jedoch wehrt man sich – verständlicherweise – mit allen Kräften dagegen, danach zu fragen, welchen Anteil die unveränderliche menschliche Natur eigentlich an diesem gegenwärtigen traurigen Ergebnis hat.

Das Problem der marktorientierten Fiktion der menschlichen Natur angreifen

Weil es sich bei dieser Gleichung jedoch um eine ganzheitliche und alles umfassende Weltsicht handelt, kann man sie nicht einfach so infrage stellen und einzelne Elemente verändern. Für jeden einzelnen Lösungsvorschlag, der die von der Globalisierung ausgelösten Bedrohungen bekämpfen soll, müsste man die gesamte Ideologie, das gesamte Wertesystem umstürzen. An die Stelle des zynischen und als Selbstverständlichkeit angesehenen fatalen Schicksals der menschlichen Natur müsste man sein ganzes Gegenteil setzen. Schließlich hat diese Ideologie erst zur heute allerseits verbreiteten Bewegungslosigkeit und dem Gefühl absoluter Machtlosigkeit geführt, welches uns auch in der aktuellen Krise daran hindert, wirklich effektiv einzugreifen.

Unsere dringendste Aufgabe ist es demnach, diese Fiktion der menschlichen Natur infrage zu stellen. Sie ist das einzige Element, an dem wir in dieser Welt von fortwährender Provisionsschneiderei und fieberhaftem Wachstum wirklich arbeiten können. Die menschliche Natur hat in Wirklichkeit nicht viel mit dem Bild zu tun, was uns die selbstrechtfertigenden Propheten der Wirtschaftsideologie verkaufen wollen. Sie zwingen uns, zu glauben, dass wir uns auf eine bestimmte Weise verhalten müssen. Anschließend müssen wir damit einverstanden sein, dass diese Verhaltensweise in absolutem Einklang mit unserer menschlichen Natur steht. Wenn es im öffentlichen Raum dann keinerlei Platz mehr für die Existenz anderer Eigenschaften unserer menschlichen Natur gibt, dann wird sich dieses trostlose und trübe Bild wohl unvermeidlich durchsetzen. Das wird dazu führen, dass wir unsere eigentlichen Möglichkeiten, großzügig, selbstlos, aufopferungsvoll und liebenswürdig zu sein, verdrängen. Aber eigentlich wissen wir doch, dass all diese Dinge tief in uns existieren, dass sie nur verschüttet und vergessen wurden, dass man sie wie ungeladene Gäste vom Wirtschaftsbankett verbannt hat (ausgenommen einiger Krümel und Speisereste an Philantropie).

Rücksichtslos, egozentrisch, individualistisch. Wenn diese Charaktereigenschaften sich überall auszahlen, wer sollte sie dann nicht zum Aushängeschild seiner Persönlichkeit machen, und die Überbleibsel menschlicher Tugenden nur noch heimlich, still und leise im Privatleben ausleben, wohin man sie verbannt hat, weil sie sonst das wirtschaftliche Spiel verderben würden?

Globale Industriegesellschaft, industrialisierte Wesen?

Vielleicht gibt es für Reiche ja andere Möglichkeiten, wohlhabend zu sein, und für Arme andere Wege, die aus der Armut herausführen, als diejenigen, die wir kennen? Genau diese scheinen aber versperrt zu bleiben. Schließlich ist man allerorts unerschütterlich davon überzeugt, dass die verschiedenen Disziplinen der Marktwirtschaft (der Allianz von der Zerstörungskraft der Natur und der Unantastbarkeit der menschlichen Natur) noch immer der einzige mögliche Kurs sind, um unsere größten Träume zu verwirklichen und unsere schlimmsten Alpträume zu verhindern.

Heute haben wir allgemein und ganz offiziell anerkannt, dass die Plünderung der Natur aufhören muss. Wenn wir aber nicht am Ursprung und der Quelle dieses räuberischen Verhaltens ansetzen, dann verringern sich unsere Überlebenschancen von Tag zu Tag. Einige radikale Fragen kommen da auf, und nicht zuletzt sollte man sich fragen, warum es so schwer geworden ist, zwischen der Natur der Industrialisierung und der Industrialisierung unserer Natur zu unterscheiden?

G20

Weltordnungspolitik im Werden

In ein und demselben von der Weltwirtschaftskrise gezeichneten Jahr versammelt sich der G20 nun schon zum dritten Mal. Immer öfter spricht man von ihm als der "neuen Weltregierung", schreibt der Präsident eines französischen Expertenzirkels zur internationalen und europäischen Entwicklung [I-défi-E, frz.: Initiative pour le développement de l'expertise française à l'international et en Europe] Nicolas Tenzer imFigaro. Seit seiner Gründung vor zehn Jahren hat der G20 den G7-G8 ganz gewiss ausgestochen und die Rolle als rechtmäßige Behörde eingenommen, die mit Wirtschaftsfragen weltweit betraut ist. Jedoch "ist der G20 deshalb noch lange keine perfekte Institution und wird somit auch nicht alle Probleme lösen können", stellt Nicolas Tenzer klar. Seiner Meinung nach arbeitet der G20 auf einer rein informellen Basis und berücksichtigt daher die Interessen der Entwicklungsländer viel zu wenig. Auch könne er nicht einfach die Rivalitäten seiner Mitglieder "wegzaubern". So lange es der G20 also nicht schafft, sich eine ähnliche Struktur zu geben wie das bestehende Institutionen der internationalen Finanzwelt getan haben (beispielsweise der Internationale Währungsfonds [IWF] und die Weltbank), wird es zwar "ehrbare Fortschritte" geben, aber keine "Revolution".

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