Könnten Kohl und Mitterrand das besser?

Fehlt es Europas Politikern an Führungsqualitäten, um die Krise in den Griff zu bekommen? Oder werden sie vielmehr von den uneinigen Koalitionspartnern und der Öffentlichkeit an ihrer Arbeit gehindert? Das zumindest meint einer der Redakteure der Volkskrant.

Veröffentlicht am 10 Oktober 2011 um 14:45

Lauschte man in letzter Zeit in den Korridoren der Macht der westlichen Welt, so kam einem oft folgender Satz zu Ohren: “Never waste a good crisis” [“Vergeude niemals eine gute Krise”, von Hilary Clinton 2009 vor dem Europäischen Parlament geäußert; Anm. d. R.]. Jedoch braucht es dafür die nötige politische Schlagkraft, an der es momentan aber an allen Ecken und Enden mangelt. Das erklärt auch die zahlreichen Leitartikel wie die Kolumne der letzten Economist-Ausgabe: „Die Schuldenkrise dauert nun schon 18 Monate, in denen sich die Spitzen der Eurozone allein durch Inkompetenz ausgezeichnet haben.“

Meiner Meinung nach macht man es sich mit diesem verächtlichen Urteil ein bisschen zu einfach. Klar konnten die EU-Spitzenpolitiker nicht wirklich punkten, aber die Frage ist doch, ob sie selbst oder vielmehr das ganze politische Umfeld dafür verantwortlich sind. Dieses scheint ihnen nicht viel Handlungsfreiheit zu lassen und zeigt sich viel widerspenstiger als noch vor einigen Jahrzehnten. Verfügt Angela Merkel tatsächlich über weniger Führungsqualitäten als Helmut Schmidt oder Helmut Kohl? Hat Nicolas Sarkozy wirklich weniger Mumm als François Mitterrand oder Jacques Chirac?

Leistungsfähigkeit ehemaliger Politiker oft verklärt

Woran kein Zweifel besteht: Sowohl “Merkozy” als auch Obama haben Fehler gemacht. Vielleicht stimmt es, dass Sarkozy einem Mitterrand tatsächlich nicht das Wasser reichen, Merkel nicht das Gewicht von Kohl hat, und Obama nicht mit so viel Einfallsreichtum brillieren kann wie Bill Clinton. Aber oft werden die Verdienste alter Politiker auch einfach romantisch verklärt. Und außerdem ist der politische Spielraum fast überall kleiner geworden.

Der Hauptgrund: die zerbröckelnde Staatsmacht. 2008 verglich der Politologe Alfred van Staden die Bewegungsfreiheit eines Regierungschefs unserer Zeit mit einem Autofahrer im Stau: “Er ist der Herr über sein Lenkrad und schafft es hin und wieder, sich zwischen den anderen Autos hindurch zu schlängeln. Aber wie schnell es wirklich vorangeht, ist vor allem vom Verhalten der anderen Fahrer und der Verkehrsregeln abhängig.” Und auch wenn viele Republikaner noch immer glauben, als Amerikaner können sie ihre Route fortsetzen, ohne ihre Bremse zu betätigen, so stecken selbst die USA im Stau.

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Für eine ausgereiftere öffentliche Meinung

Ein zweiter Faktor trägt zu diesem Stau bei: politische Uneinigkeit. In vielen Ländern regieren Koalitionen, die mit Mühe und Not versuchen, die stark polarisierten Bevölkerungen zu regieren. Unter solchen politischen Bedingungen geraten Erfolge schnell in Vergessenheit. Dafür reicht es schon aus, sich Nicolas Sarkozys politisches Auf und Ab anzuschauen. Hier und da wurde Frankreichs Präsident für seinen Mut im Kampf gegen das Regime von Muammar al-Gaddafi gelobt. Im eigenen Land aber hat er sich damit kaum punkten können.

Die Schlussfolgerung hieraus ist besonders für Europa leider nicht sehr erbaulich: Den politischen Zerfall kann man nicht einfach so wegzaubern. Vielleicht sollten wir nicht auf bessere Politiker hoffen, sondern vielmehr für eine ausgereiftere öffentliche Meinung sorgen. Hier liegt ein enormer Engpass. Und auch wenn man ihr einiges abgewinnen kann, so hat die Euroskepsis doch zu Misstrauen gegenüber sämtlichen Regierungsformen gesorgt. Dabei brauchen wir Regierungen und diejenigen, die diesen vertrauen, weil sie sie selbst gewählt haben, um nicht irgendwo einfach zu versanden.

Die traditionelle föderalistische Antwort ist: mehr Macht für Brüssel. Allerdings hat in den letzten Monaten vor allem die zwischenstaatliche Zusammenarbeit ein Comeback gefeiert. Konkret bedeutet das: eine leitende Rolle für Berlin mit Paris als Weichensteller. Und die Lektion aus dieser Serie von Enttäuschungen heißt auch: um das föderale Europa zukunftsfähig zu machen, so sollte die Europäischen Kommission besser von jemandem geleitet werden, der aus einem AAA-Land kommt, als einem krisengebeutelten Land, das selbst gestützt werden muss. (jh)

Irland

Irischer Premier fürchtet erneutes EU-Referendum

Bundeskanzlerin Angela Merkel will den Vertrag von Lissabon ändern, um die Schuldenkrise in der Eurozone besser in den Griff zu bekommen. Doch dieser Zug könnte in Irland ernsthafte Folgen haben. Wie die Irish Times berichtet, könnte Merkels Initiative “in Irland ein Referendum erfordern”, denn laut der irischen Verfassung muss jegliche Änderung des EU-Vertrags den Wählern vorgelegt werden. Die Tageszeitung aus Dublin sieht darin “voraussichtlich politische Schwierigkeiten für Ministerpräsident Enda Kenny, der in den letzten Tagen klargestellt hat, dass er den Pakt nicht wieder öffnen will”.

Der Taoiseach ist zweifellos darauf bedacht, eine Wiederholung des Referendums von 2008 über den Vertrag von Lissabon zu vermeiden. Damals lehnten die irischen Wähler den EU-Vertrag ab, nur um ihn ein Jahr später unter dem Druck der EU dann doch anzunehmen. Welchen Änderungen die deutsche Bundeskanzlerin den Vertrag unterziehen will, ist allerdings unklar. Funktionäre erwarten Änderungen, die es “den europäischen Behörden erleichtern, in Staaten, die regelmäßig die Haushaltsregeln der EU brechen, wirtschaftspolitisch ihren Willen durchzusetzen”.

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