Wer will den besten Lebensort der Welt? Schweizer Dorf bei Zürich (Bild: Juhanson)

Lieber Lissabon oder Schweiz?

Die EU bietet einen hohen Grad an Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und öffentlicher Wohlfahrt für die meisten ihrer Bürger, doch auf weltweiter Ebene ist sie gewissermaßen irrelevant. Wenn sie ihrem Status als "große Schweiz" entsteigen will, dann muss Irland unbedingt dem Vertrag von Lissabon zustimmen, meint Timothy Garton Ash.

Veröffentlicht am 2 Oktober 2009 um 13:19
Wer will den besten Lebensort der Welt? Schweizer Dorf bei Zürich (Bild: Juhanson)

Es war einmal eine Zeit, eine sehr schlechte Zeit, da zitterte die Welt, wenn Deutschland sprach. Heute merkt sie es kaum. Wenn sich die Welt etwa in den letzten Wochen nur auf amerikanisches Fernsehen und amerikanische Zeitungen verlassen hätte, dann wüsste sie wohl nicht einmal, dass in Europas größtem Land Wahlen abgehalten wurden. Über Silvio Berlusconis Sperenzchen wird berichtet, über Europas seriöse Politik nicht. Europa ist weder gefährlich genug, um Aufmerksamkeit zu erfordern, noch ist es dynamisch und bedeutend genug, um sie zu gebieten, wie China. Europa ist nett, langweilig und irrelevant.

In vielerlei Hinsicht ist das eine große Leistung. Als Europa das letzte Mal so eine schwere Finanz- und Wirtschaftskrise mit hohen Arbeitslosenzahlen durchlitt, verhielt sich Deutschland gar nicht nett und langweilig. Diesmal hat das Zentrum triumphierend gehalten. Die Politik nach dem Motto "Schuld sind die Ausländer" hat nirgendwohin geführt. Angela Merkel hat ihren Status als eine von Europas beachtlichsten politischen Persönlichkeiten bestätigt. Beachtlich nicht zuletzt deshalb, weil sie bravourös den Anschein der Unbeachtlichkeit wahrt: direkt, unprätentiös, bodenständig.

Deutschland und die Kuckucksuhr

In einer Koalition mit der FDP wird sie eine Chance haben, ein paar Steuersenkungen durchzusetzen, die Lebensdauer der Atomkraftwerke zu verlängern, und vielleicht für ein bisschen mehr Freiheit auf dem Stellenmarkt zu sorgen. Doch die Anhänger der freien Markwirtschaft sollten sich nicht zu viele Hoffnungen machen und die Sozialdemokraten nicht zuviele Sorgen. Merkel II wird nicht so sehr anders sein als Merkel I. Sie hat die Wahl durch ihre Position im Zentrum gewonnen, und im Zentrum wird sie auch bleiben. Deutschlands gut ausgearbeitetes System der gegenseitigen Kontrolle spricht sowieso gegen schnelle, radikale Veränderungen.

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Mit Merkel und, höchstwahrscheinlich, dem Liberalen Guido Westerwelle als Außenminister wird sich auch Deutschlands Auslandspolitik nicht schwerwiegend verändern. Deutschland wird nach wie vor der engste Partner Russlands in Europa bleiben. Es wird versuchen, den USA ein guter Freund zu sein, dabei die deutschen Truppen in Afghanistan außer Gefahr zu halten und weiterhin so viele Geschäfte wie anstandshalber vertretbar mit dem Iran machen.

Die Details werden in einem Monat nach dem Koalitionsgefeilsche entschieden. "Wenn die Weltpolitiker am 9. November nach Berlin kommen, würde ich sie gerne mit einer neuen Regierung begrüßen", sagt Frau Merkel. Der 9. November – der Fall der Mauer. Und plötzlich erinnert man sich an die Hoffnungen und die Befürchtungen von 1989. Deutschland im Herzen eines vereinten Europas, ein Vorbild für die Welt. Oder, in den überhitzten Fantasievorstellungen konservativer Briten und Polen, Deutschland als das Vierte Reich. Stattdessen haben wir... die Kuckucksuhr, wie Orson Welles einstmals witzelte, indem er die Errungenschaften von 2000 Jahren Schweizer Zivilisation in einem Wort zusammenfasste. Deutschland als große Schweiz.

Ganz Europa eine große Schweiz

Und nicht nur Deutschland. Ganz Europa ist heute eine Art große Schweiz. Es hat große und kleine Kantone, die jeweils leidenschaftlich auf ihren Traditionen und ihrer Selbstverwaltung beharren. Da gibt es den Kanton Slowenien und den Kanton Frankreich, den Kanton Großbritannien und den Kanton Luxemburg. Manche sind bedeutender als andere, aber keiner von ihnen ist auch nur halb so bedeutend wie früher oder – und dies trifft besonders auf Frankreich und Großbritannien zu – wie er immer noch zu sein glaubt. Diese Groß-Schweiz garantiert einen hohen Grad an Sicherheit, Wohlstand, Freiheit und öffentlicher Wohlfahrt für die meisten, jedoch nicht alle ihre Bürger, und manche, jedoch nicht alle, ihrer Bewohner. Für ihre Bürger ist sie einer der besten Lebensorte der Welt.

Nun gibt es natürlich eine ganze Menge von Faktoren, die dafür sprechen, eine Schweiz zu sein. Die Frage ist: Sind wir Europäer damit zufrieden? Ist das alles, was wir im 21. Jahrhundert sein wollen? Ich vermute, dass die meisten Europäer diese Frage im tiefsten Inneren mit "ja" beantworten werden. Das Problem dabei ist allerdings, dass wir durch die Entscheidung, nur eine große Schweiz zu sein, auf längere Sicht nach und nach eben die Voraussetzungen verlieren werden, die es uns überhaupt ermöglichen, eine große Schweiz sein zu können. Denn der Sinn einer europäischen Außenpolitik ist nicht die Macht an sich, sondern die Macht, jene Interessen zu schützen und zu fördern, die von allen europäischen Ländern zunehmend geteilt und in einer Welt nichteuropäischer Giganten angefochten werden.

Irlands Entscheidung wichtiger als deutsche Wahl

Deutschland ist bei dieser Entscheidung wichtig. Großbritannien ist bei dieser Entscheidung wichtig – und wird wahrscheinlich unter konservativer Führung die falsche Richtung ansteuern. Doch diese Woche ist Irland das wichtigste Land. Denn Irland entscheidet am 2. Oktober erneut über den Vertrag von Lissabon. Damit wir in der Welt eine stärkere europäische Stimme haben, müssen die Iren "ja" wählen.

In demokratischer Hinsicht liegt ein Problem darin, das erste "Nein" nicht gelten zu lassen. Aber in demokratischer Hinsicht liegt auch ein Problem darin, dass britische Zeitungen im Besitz von Rupert Murdoch eine derartige Rolle in der irischen Debatte spielen. Die Iren müssen sich ihre eigene Meinung bilden, was sie aus ihren eigenen Gründen tun werden, und sie sollten nicht irgendwelchen Androhungen schrecklicher Folgen nach einer "falschen" Entscheidung ausgesetzt sein. Doch für die Zukunft Europas kann die Entscheidung Irlands sehr wohl bedeutender sein als die Wahl in Deutschland.

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