Bild: Presseurop, G Tobias

Es laboriert im Museum

Wenn der Vertrag von Lissabon erst einmal ratifiziert ist, müsste die EU über alle Mittel für ihre politischen und wirtschaftlichen Ambitionen verfügen. Nur genügend Mut muss sie dann noch aufbringen, um die notwendigen Risiken einzugehen, meint der Chefredakteur der amerikanischen Monatszeitschrift Foreign Policy, Moisés Naím.

Veröffentlicht am 8 Oktober 2009 um 13:58
Bild: Presseurop, G Tobias

Diese Frage stellen nicht so sehr die Referenden in Europa, sondern vielmehr die Europäer, die versuchen, eine Antwort darauf zu finden.

Werden Europas Kultur und Traditionen seine hauptsächlichen Motoren sein? Oder vielmehr seine Fähigkeit, neue Regierungsformen zu erfinden, um die interne Integration zu fördern und die Beziehungen mit dem Rest der Welt zu organisieren? Werden vor allem seine Museen, Orchester und Restaurants das Europa von morgen bestimmen, oder eher seine Fabriken, Laboratorien und Universitäten? Natürlich kann eine solche Aufzählung die Schwierigkeiten und die Potenziale Europas nur als Karikatur darstellen. Europa wird immer eine kulturelle Macht und stets auch eine Hochburg für Wissenschaft, Industrie und Militär sein.

Diese Karikatur funktioniert wie alle anderen Zerrbilder. Stellt man ein Europa der Museen einem Europa der Laboratorien gegenüber, so kann man damit zwei grundverschiedene Zukunftsvisionen anschaulicher machen. Diejenige des Labor-Europas umfasst nicht ausschließlich die wissenschaftlichen Kapazitäten, sondern berücksichtigt auch die möglichen neuen Regierungsformen, neue Institutionen, neue Arten der Politik, sowie neue Verhaltensregeln.

Mehr Transparenz mit dem Vertrag von Lissabon

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Diese Themen sind es, welche für die Iren ausschlaggebend waren, die gerade ihre Stimmen abgegeben haben. Als man ihnen im vergangenen Jahr zum ersten Mal die Frage stellte, haben sie mit "Nein" geantwortet. Und nun sagen sie "Ja". Aber wozu haben sie "Ja" gesagt? Sie haben sich dafür ausgesprochen, dass man an der europäischen Spitze einen Vollzeit-Posten schafft. Somit könnte man aufhören (wie es gegenwärtig noch der Fall ist), von einer Präsidentschaft abhängig zu sein, die alle sechs Monate von einem Staats- oder Regierungschef an einen anderen der siebenundzwanzig Mitgliedsstaaten weitergereicht wird. Der neue Präsident wird ein zweieinhalbjähriges Mandat ausüben und kann anschließend ein Mal wiedergewählt werden. Momentan sind Felipe González und Tony Blair ernst zu nehmende Kandidaten.

Die Iren haben sich auch für ein gerechteres Wahlsystem in Sachen kollektive Entscheidungen ausgesprochen, damit jedes Mitgliedsland einen Vertreter in der Europäischen Kommission erhält und die Arbeitsweise des Europäischen Parlamentes verbessert wird. Dann hätte Europa in der ganzen Welt einen Vertreter, dessen Aufgaben man viel besser definieren könnte und der umso mehr Autorität besitzen würde. Auch für alle anderen anstehenden Veränderungen könnte man die Effizienz und die Transparenz der Europäischen Union und ihrer Verfahrensweisen steigern.

2040 nur 4 % der Weltbevölkerung in Europa

Jedoch hat diese Abstimmung nicht wirklich viel mit irgendeinem Enthusiasmus gegenüber den vorgeschlagenen institutionellen Veränderungen zu tun. Viel wichtiger ist die verbreitete Überzeugung, dass es Irland besser gehen wird, wenn es sich Europa anschließt. Und auch für Europa sei es besser, wenn seine Integrationskraft stärker und effizienter ist. Nun müssen nur noch die herausschiebenden Versuche des tschechischen Präsidenten Václav Klaus ein Ende nehmen und Polen den Vertrag ratifizieren. Wenn man sich für den Vertrag von Lissabon aussprechen sollte, dann wird Europa 2010 ein ganz neues institutionelles Gebilde sein. Diese Innovationen in Sachen Politik sind natürlich nicht mit einem Medikament zu vergleichen, welches Krebs bekämpfen könnte. Auch sind sie kein Zauberspruch, mithilfe dessen man die schwierigen Strukturprobleme lösen kann, welche Europa in Angriff nehmen muss. Doch wird es trotz allem ein entscheidender Sprung nach vorn sein, der es den Europäern einfacher machen wird, die bevorstehende Zukunft in Angriff zu nehmen. Eine Zukunft, die Ihresgleichen sucht.

Den Berechnungen des Historikers und Nobelpreisträgers für Wirtschaft Robert Fogelentsprechend, haben im Jahr 2000 in Europa 6 % der Weltbevölkerung gelebt. Seine Wirtschaftsaktivität entsprach 20 % der Weltwirtschaft. In China und Indien lebten damals 38 % der Menschen, während die Wirtschaftsaktivität nur 16 % der Weltwirtschaft entsprach. Für 2040 schätzt Fogel, dass in Europa nur noch 4 % der Weltbevölkerung leben werden und seine Wirtschaft nicht einmal die 5 % überschreiten wird. China und Indien hingegen werden dann 34 % der Weltbevölkerung beherbergen, während die gemeinsame Wirtschaftsaktivität 52 % der Weltwirtschaft erreichen wird.

Von diesem Standpunkt aus betrachtet ist es eine absolute Pflicht, dass Europa seine Beziehungen zum Rest der Welt als einheitliche, effiziente und innovative Union gewährleisten kann. Nun ist dies aber gerade eines seiner geringfügigsten Probleme.

REFORMEN

Das Byzanz-Syndrom

"Bei den Diskussionen um seine Regelungen, Prozeduren und Institutionen redet Europa nun schon seit 10 Jahren um den heißen Brei herum" anstatt "seine Energie lieber darauf zu verwenden, Lösungen für die Steuerharmonisierung zu finden, einen gemeinsamen Energiemarkt aufzubauen, gegen den Klimawandel zu kämpfen und seine Wettbewerbsfähigkeit oder seine Finanzaufsicht zu verbessern", meint Xavier Vidal-Folch in El País.

Das Vetorecht, von dem Irland Gebrauch gemacht hat, um dem Vertrag von Lissabon zuzustimmen, könnte aus der Europäischen Union eine Art neues "Byzanz" machen. Die EU müsse dann mit den Erpressungsversuchen der einzelnen Landesregierungen fertig werden, welche dank der Einstimmigkeitsregel im Vorteil sind. Die Folge wäre ein "Lähmungshöhepunkt". Der Meinung des Journalisten zufolge gibt es einen einzigen Ausweg: Eine "knallharte Antwort". Über eine "effiziente politische Macht" müsste man verfügen, schließlich sind die "neuen Osmanen" auf dem Anmarsch und nähern sich mit ihrer neuen Macht aus Richtung Asien. Während "die Byzantiner sich ablenken, indem sie über den Geschlechtsverkehr der Engel diskutieren, haben die Osmanen sie schneller verschlungen, als sie gucken können". Das Gewicht der europäischen Wirtschaft ist in Gefahr. Zwar "entstehen für die Erpresser keinerlei Kosten, aber die EU muss für die Rechnung aufkommen und verliert so wichtige Gelegenheiten, sein internationales Ansehen und seine Glaubwürdigkeit auf den Märkten", unterstreicht Xavier Vidal-Folch.

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