Schülerausweis von Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009 (AFP)

Ein Nobelpreis gegen die Diktatur

Die am 8. Oktober ausgezeichnete deutsche Schriftstellerin rumänischer Abstammung trägt gleich mehrere europäische Vergangenheiten in sich. Die Presse aus ihren beiden Heimatländern begrüßt die Anerkennung einer Autorin, die ein Licht auf zeitgenössische Konflikte wirft.

Veröffentlicht am 9 Oktober 2009 um 15:36
Schülerausweis von Herta Müller, Literaturnobelpreisträgerin 2009 (AFP)

"Ein großer Tag für die deutsche Literatur", freut sich Tilman Spreckelsen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an die deutsch-rumänische Schriftstellerin Herta Müller. In ihrem gesamten Werk hat sie beschrieben, was die Staatsrepression denjenigen aufzwingt, die sie erleiden müssen. "Indem ihr dieser Preis zuerkannt worden ist, geht von der Stockholmer Akademie ein Signal aus", befindet die Tageszeitung. "Es ist ein Bekenntnis zu Artistik und Ethik als zwei Seiten einer Medaille, und nicht zuletzt auch zu einer zerstörten Diasporakultur und ihrer wortmächtigsten Bewahrerin."

Für die Süddeutsche Zeitung bleibt Stockholm seinem Bestreben treu, einen Schriftsteller auszuzeichnen, der als "vermittelnder Bewohner von Zwischenwelten" fungiert. Man begegne bei Müller einem "Europa aus der Zeit vor dem Kalten Krieg: kleinteilig, doch kulturell vielfach ineinander gewoben". Denn, so erinnert die România Libera, "der Nobelpreis wurde im Banat geboren", einer Region im Westen Rumäniens, in welcher sich auch der Geburtsort von Herta Müller befindet: Nitzkydorf. "Das größte Verdienst" der Preisträgerin, so der Schriftsteller und Journalist Ovidiu Pecican in der Bukarester Tageszeitung, "ist es, einen spezifischen Geisteszustand wieder in den Vordergrund zu stellen, nämlich den einer im Verschwinden begriffenen Gemeinschaft", der deutschen Minderheit in Rumänien, die das Land nach 1989 verließ und "mit der deutschen Nation verschmolzen ist, nachdem sie an einer anderen Geschichte teilgenommen hatte".

Eine rumänisierte Deutsche, eine verdeutschte Rumänin

Dabei hat Herta Müller einen weiten Weg zurückgelegt. "Ceausescu hat Herta Müller für 8000 Mark an den Westen verkauft", liest man im Adevarul. "Der Gipfel ist, dass es für Frau Müller eine ideale Lösung war: an Deutschland verkauft – in den 1980er Jahren in Rumänien, das seine Deutschen und seine Juden verschacherte, durchaus üblich – wusste sie die Situation auszunutzen", heißt es in der Tageszeitung. "Die junge, talentierte Frau hatte eine denkwürdige Erfahrung der Diktatur, denn ihre Bücher waren verboten und sie wurde von der Securitate verfolgt." Viele sagen heute, "wir haben Deutschland einen Nobelpreis geschenkt", bemerkt der Adevarul. "Das stimmt nicht: Wir haben eine Schriftstellerin verschenkt, die gute Chancen gehabt hätte, sich in Platitüden zu verlieren, wäre sie in Rumänien geblieben. Doch hier ist Herta Müller: eine rumänisierte Deutsche, eine verdeutschte Rumänin." Das ist auch der Grund, warum Spiegel-Online findet, dieser Nobelpreis könne "an ein Mitteleuropa-Konzept anknüpfen, das durch die jugoslawische Tragödie und die EU-Erweiterung aus dem Rennen geworfen worden ist: ein Konzept, in dem Identitäten nicht von Nationalstaaten vergeben, sondern durch kulturelle Bindungen bestimmt werden".

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Die TAZ hingegen erhofft sich breitere Konsequenzen aus dieser Auszeichnung. Nach Günter Grass (1999) und Elfriede Jelinek (2004), ist dies der dritte Nobelpreis für einen deutschsprachigen Autor in zehn Jahren. Trotz allem sieht die TAZ darin nicht einen Preis für die deutschsprachige Literatur, sondern für die "kompromisslose Übersetzung der historischen Wirklichkeit und Erinnerung in Sprache".

Die Berliner Tageszeitung interpretiert den Preis als eine Verpflichtung: Man müsse auch "in unseren sehr viel fremderen Literaturen nach den Büchern suchen, in denen gegenwärtige Konfliktlinien verhandelt werden". Die TAZ empfiehlt insbesondere, der chinesischen Literatur [China ist dieses Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse] dabei zu helfen, sich auch gegen Widerstände der offiziellen Behörden in China durchzusetzen. "Man darf als Europäer nicht Gefahr laufen, dass man die eigenen historischen Konflikte so ernst nimmt, dass man sie mit dem einzigen Weltliteraturpreis, den es gibt, auszeichnet. Und gleichzeitig die Konflikte außerhalb Europas unter den Teppich kehrt", schließt die TAZ.

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