Stabilitätspolitik für alle. Angela Merkel im Bundestag, Berlin, 2. Dezember 2011.

Tu, was die Dame sagt

Europa muss lernen, mit Deutschland zusammenzuarbeiten, sagt Italiens Vorzeige-Journalistin Barbara Spinelli. Trotz seines strengen Rufs ist das deutsche Modell die einzig lebbare Alternative zum chinesischen.

Veröffentlicht am 2 Dezember 2011 um 14:25
Stabilitätspolitik für alle. Angela Merkel im Bundestag, Berlin, 2. Dezember 2011.

Seit die Eurozone immer heftiger in die Kritik gerät, bezichtigt der Soziologe Ulrich Beck Deutschland eines schweren Vergehens: des Euronationalismus. Für ihn hat Angela Merkel die Regeln der Demokratie vergessen, ist arrogant und somit “eine europäische Version des D-Mark-Nationalismus”, wenn sie ihre Stabilitätskultur zum europäischen Dogma macht. Es sei auch ihre Schuld, dass die europäischen Politiker von Technokraten verdrängt wurden.

Das von Ex-Premier Papandreou angekündigte und dann wieder zurückgenommene Referendum über den Sparkurs sei Zeugnis über die Kluft zwischen Europa und Demokratie. Zahlreiche Indizien scheinen Beck recht zu geben: Angela Merkel lehnt hartnäckig Vorschläge einer aktiveren Unterstützung der Krisenländer durch die EZB ab, trotz des Widerstandes in ihrer eigenen Partei, der Opposition, sogar im Sachverständigenrat (dem “Rat der fünf Weisen”), der den deutschen Regierungen bei wirtschaftlichen Entscheidungen zur Seite stehen soll.

Doch Deutschland war nicht immer so widerwillig, zumindest nicht auf theoretischer Ebene. Der Gedanke, dass der Euro ohne politische Union gefährdet sein könnte, war in der Vergangenheit bereits mehrmals aufgekommen – in der Bundesbank selbst und im Verfassungsgerichtshof – , und genau jetzt, wo weiterer Handlungsbedarf besteht, bekommt Berlin kalte Füße und macht einen Rückzieher. In der Politik ist es nicht leicht, neue politische Abenteuer zu beginnen, wenn ein verängstigtes Volk sich von Standpunkten beruhigen lässt, die mit der beschwichtigenden Kraft von Lehrmeinungen und Lokalpatriotismus aufwarten können. Da kapselt man sich lieber ab und sagt ganz oft Nein.

Weniger grausam als das chinesische Modell

Die europäischen Linken gehen mit einigen von Becks Kritikpunkten konform (allerdings nicht mit seiner Befürwortung eines supranationalen Europas der Bürger), während viele Kritiker des deutschen Neonationalismus diese nicht teilen. Sie missbilligen das griechische Referendum, nicht, weil es zu demokratisch gewesen wäre, sondern weil man das Volk nur zu den Ausgabenkürzungen befragen wollte und mehr ausgenützt als informiert zu werden drohte. Würde man heute den Griechen die richtige Frage stellen (“Wollt ihr in der Eurozone bleiben”), sie würden nicht unbedingt mit Nein stimmen.

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Worauf oft vergessen wird: Die deutsche Stabilitätskultur ist kein Monster, sondern eine Kultur, die Deutschland zur einzigen Alternative zum chinesischen und amerikanischen Modell macht, die nicht überstreng ist. Ihre Grundpfeiler: Aufwertung der Gewerkschaften, gemeinsame Maßnahmen gegen Standortverlagerungen, hohe Löhne. Auch das demografische Problem hat Berlin gut bewältigt – durch die 2000 erfolgte Abkehr vom Ius sanguinis (Abstammungsprinzip), das in Deutschland geborenen ausländischen Bürgern die deutsche Staatsbürgerschaft verwehrte.

Die schärfsten Kritiker der deutschen Haltung wissen diese Dinge ganz genau und hoffen daher, dass die Regression umkehrbar ist. Merkels langsames Handeln in Sachen Griechenland war sehr unglücklich (die verlorenen eineinhalb Jahre haben das heutige Chaos ausgelöst), zeigt allerdings auch, dass Deutschlands Problem nicht der Wille der Kaiserin, sondern Willenlosigkeit ist. In letzter Minute ließ Berlin Athen dann doch nicht im Stich. Aus diesem Grund ist eine – wenn auch nur zaghafte – Wende beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs am 8. und 9. Dezember nicht ausgeschlossen.

Fällt der Euro, fällt Deutschland

Sofern sich die Krise nicht verschlimmert, wird die deutsche Regierung die Vergemeinschaftung der Schulden, also die Eurobonds, weiterhin ablehnen. Es ist auszuschließen, dass die EZB Kreditgeber letzter Instanz wird. Doch vielleicht bewegt sich doch etwas, wie auch am 23. November, als Berlin klar wurde, dass die Staatsanleihen gefährdet waren, und so in die Realität zurückgeholt wurde. Wenn der Euro fällt, scheitert auch Deutschland, dessen Exporte durch die Präsenz einer schwächeren Währung als der Mark boomten.

Das Erwachen könnte verschiedenste, mehr oder weniger stabilitätsbringende oder nachteilige Folgen haben. Will man heute einen wirklich starken Rettungsschirm, muss man Deutschland die Garantie geben, dass dieser keinerlei Nachlässigkeit dulden und so die Fiskal- wie Wirtschaftspolitik der Staaten unter Kontrolle bekommen wird. Jene werden folglich auf ihre Souveränität auf diesem Gebiet verzichten müssen. Diese Garantie muss auch für Berlin selbst gelten.

Das Thema EZB als Kreditgeber letzter Instanz ist ein komplexeres. Widerstand kommt nicht nur aus Berlin, sondern auch von den Währungsbehörden. Die EZB, heißt es aus Frankfurt, ist Kreditgeber letzter Instanz gegenüber den Banken, nicht den Staaten. Angesichts der fehlenden Sicherheit in Sachen Staatsanleihenerwerb auf dem Sekundärmarkt entsteht der Eindruck einer Bank, die nicht so verlässlich ist wie die Federal Reserve. Für ihre Mängel ist nicht nur Berlin verantwortlich, doch sie sind Fakt.

Das moralische Risiko

Deutschland, das Europa lenkt, steht nun am Scheideweg: Einheit oder Zerfall der Union. Der Zerfall ist näher als je zuvor, wenn Deutschland von einem kleinen Kreis von Sparerländern träumt, vielleicht mit Eurobonds bewaffnet, eine Insel der Seligen. Das wäre die verheerendste Lösung, denn sie würde die Euro-Länder ins Chaos stürzen, raus aus dem magischen Kreis.

Vielleicht wird beim nächsten Gipfel deutlicher, in welche Richtung Berlin gehen will: Spaltung Europas oder föderalistischere Verträge. Alles wird beherrscht von einer Angst, die Altkanzler Helmut Schmidt 1996 als hypochondrische Angst vor dem Neuen sah, neben den Ängsten, die Deutschland Europa einflößt. Hauptinstrument dieser Angstmache ist der Begriff des Moral Hazard, des moralischen Risikos, zu dem es kommt, wenn die Verschwender aufhören, sich selbst zu überwachen und zu disziplinieren, weil sie unterstützt oder beschwichtigt werden.

Die europäischen Institutionen und alle Staaten müssen nun beweisen, dass dieses Risiko geringer wird, wenn neben der Stabilitätskultur das Klima eines dauerhaften gegenseitigen Vertrauens entsteht, das nur durch die politische Einheit Europas möglich ist.

Aus dem Italienischen von Salka Klos

Aus Deutschland

Zwei Lösungen und die Katastrophe

Das Zeitalter nach dem Euro nimmt in der deutschen Presse erste Formen an. Zum Beispiel im Spiegel. Das Hamburger Nachrichtenmagazin machte diese Woche mit einer als Abgrund auseinanderklaffenden Euro-Münze auf, darüber die Frage: “Und jetzt?” Der Hauptartikel ist kaum erbaulicher. Zwischen dem Druck der Märkte, Deutschlands verquerem Krisenmanagement und den einzig verbleibenden Alternativen Eurobonds und EZB komme Deutschland wohl nicht darum herum, seine geschätzte Stabilitätskultur aufzugeben.

Trotz allem berief sich die Bundeskanzlerin in ihrer Rede vor den Abgeordneten am 2. Dezember wieder auf eben jene Haushaltsdisziplin. Nach Nicolas Sarkozy, der am Donnerstag für eine “Neugründung” Europas plädiert hatte, sagte Merkel, die Krise werde “noch Jahre dauern” und lasse sich nicht über Nacht lösen. Sie lehnte die Einführung von Eurobonds und eine stärkere Rolle der EZB weiter ab und versicherte: "Wir reden nicht nur über eine Stabilitätsunion, sondern wir fangen an, sie zu schaffen." Strategie, die Spiegel-Online mit dem Titel “Merkel zockt am Abgrund” kommentiert. Am 5. Dezember treffen sich Merkel und Sarkozy in Paris um sich mit Blick auf den EU-Gipfel am 8. und 8. Dezember abzustimmen.

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