Ulus meydani, der Platz der Nation in Ankara.

Die EU, Ankaras liebster Prügelknabe

Im Aufwind der wirtschaftlichen und politischen Dynamik ihres Landes kritisieren immer mehr türkische Verantwortliche die Europäische Union, die tief in der Krise steckt. Das darf jedoch nicht die Entschlossenheit Ankaras zum EU-Beitritt in Frage stellen, meint ein türkischer Leitartikler.

Veröffentlicht am 13 Dezember 2011 um 15:46
Ulus meydani, der Platz der Nation in Ankara.

Die Kritik an der Europäischen Union ist in der letzten Zeit in der Türkei stark in Mode gekommen. Jetzt stimmen sogar hochrangige Politiker, durchaus auch Minister und sogar der Präsident selbst in die Beanstandungen ein. Sie stehen inzwischen denjenigen, die die Europäische Union rückhaltlos kritisieren oder sich sogar über sie lustig machen, in nichts mehr nach. Die Aussage von Abdullah Gül bei seinem Staatsbesuch in Großbritannien Ende November, wo er die EU im englischen O-Ton als “miserable” qualifizierte, zeigen deutlich diese neue Tendenz.

Vor diesem Hintergrund setzte der Trend dazu ein, die EU als “auseinanderbröckelnde Organisation kurz vor dem Zusammenbruch” zu bezeichnen. Wer von diesem Postulat ausgeht, kommt zu der Schlussfolgerung, dass eine Türkei, die “immer stärker wird, die EU, die ohnehin am Rande des Abgrunds steht, nicht mehr braucht”.

Übertriebener Überlegenheitskomplex

Muss man daraus schließen, dass sich die Politik des türkischen Staats gegenüber der EU ändert? Wenn es sich bei der EU um eine “armselige” Organisation kurz vor dem Zusammenbruch handelt, warum bemüht sich die Türkei dann nach wie vor so stark um den Beitritt? Oder ist sie dabei, dieses Ziel und die mit ihm einhergehende Zukunftsvision aufzugeben? Warum will eine Türkei, die mit Riesenschritten auf den Wohlstand zueilt, einem solchen Club beitreten und sich mit ihm an der Aufführung der “Elenden” beteiligen?

Die Beweggründe Abdullah Güls für eine derartige Aussage kennen wir allzu gut. Die äußerst negative Haltung, die die EU bereits seit einiger Zeit dem Beitritt der Türkei gegenüber eingenommen hat, hat in der türkischen Öffentlichkeit allgemein, aber auch unter den begeistertsten EU-Befürwortern für Enttäuschung gesorgt. Sie halten mit ihrer Desillusion, ihrem Groll und ihrer Hoffnungslosigkeit nicht länger hinter dem Berg. Diese Art Gefühl ist auf die schweren wirtschaftlichen und sozialen Schocks zurückzuführen, die die Europäer erleiden, während wir einen wirtschaftlichen und politischen Aufschwung erleben.

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Vor diesem Hintergrund bringen die Vorwürfe an Europa ein Selbstvertrauen zum Ausdruck, das in gewisser Hinsicht an die Stelle des alten Verfolgungswahns getreten ist. Wenn diese Haltung jedoch zu einem übertriebenen Überlegenheitskomplex führt und dazu, dass die EU mit unangemessenen Adjektiven qualifiziert und heruntergemacht wird, öffnet das bei uns einer Missachtung des europäischen Projekts die Türen und liefert den europäischen Gegnern des türkischen EU-Beitritts neue Argumente.

EU steht nicht knapp vor dem Zusammenbruch

Es stimmt zwar, dass die EU heute eine der schwierigsten Phasen ihrer Geschichte durchmacht. Die Finanzkrise hat sowohl kleine, schwache Länder als auch diejenigen, die für ihren großen Reichtum und Fortschritt bekannt sind, an den Rand des Ruins gebracht. Das geht natürlich nicht ohne soziale und politische Erschütterungen einher. Ebenso stimmt es allerdings, dass die Europäische Union noch nicht knapp vor dem Zusammenbruch oder der Auflösung steht. Auch wenn Europa heute “unglücklich” oder “krank” wirkt, hat es noch die Möglichkeit, sich zu erholen und den Einfluss zurückzugewinnen, der ihm derzeit fehlt.

Die türkischen Politiker ignorieren diese Realität nicht und sind sich der Philosophie und der Werte, die die Europäische Union für die Türkei noch verkörpert, durchaus bewusst. Die öffentliche Meinung in der Türkei darf daher die Reaktionen der Verantwortlichen des Landes keinesfalls als eine Aufgabe des europäischen Projekts verstehen. Dasselbe gilt für die europäischen Entscheidungsträger, die sich durch eben diese Reaktionen beleidigt fühlen. (ae)

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