Hauptdarsteller nach der Vorstellung. Der russische Präsident Dimitri Medwedew nach dem EU-Russland-Gipfel in Brüssel. 15. Dezember 2011

Europäisch-russischer Komödienstadel

In ihren Interessen vereint, aber in den Werten getrennt müssen sich Europa und Russland verstehen, ob sie wollen oder nicht. Brüssel plädiert zum schönen Schein für mehr Demokratie, und Moskau tut so, als höre es zu. Letztes Beispiel: der Gipfel vom 15. Dezember.

Veröffentlicht am 16 Dezember 2011 um 15:35
Hauptdarsteller nach der Vorstellung. Der russische Präsident Dimitri Medwedew nach dem EU-Russland-Gipfel in Brüssel. 15. Dezember 2011

Die zweimal jährlich stattfindenden Gipfeltreffen zwischen Russland und der Europäischen Union verleihen den Eindruck, dass die beiden sich hassen. Da sie sich jedoch auch gegenseitig brauchen, führen sie jedes Mal einen artigen Tanz um die strittigen Themen auf. Das gestrige Treffen in Brüssel, zu dem Dimitri Medwedew von seinen europäischen Gastgebern Herman van Rompuy und José Manuel Durão Barroso eingeladen wurde, bestätigt wieder einmal diese Regel.

Die beiden Partner verbinden viele gemeinsame Interessen, von einer gemeinsamen Werteskala kann allerdings keine Rede sein. Deshalb führen die Gipfel weder zum Bruch noch zum Vollzug der Beziehung. Europa importiert ein Viertel des Erdgases und ein Fünftel des Erdöls aus Russland.

Solange die Erdgasleitung durch das Kaspische Meer und andere Projekte nicht umgesetzt sind, wird sich daran nichts ändern. Nun kommt noch dazu, dass Europa dringend die 10 Milliarden US-Dollar benötigt, die Medwedews Wirtschaftsberater gestern dem Sonderfonds des Internationalen Währungsfonds zur Stabilisierung der Staatsfinanzen in der Eurozone versprochen hat.

Gemeinsame Interessen, teilende Werte

Gleichzeitig hängt Russland von seinem wichtigsten Handelspartner Deutschland ab und natürlich von Europa im Allgemeinen, das die Hälfte der russischen Exporte abnimmt. Moskau braucht Europa so, wie Europa Moskau braucht. Das sind die gemeinsamen Interessen. Wie steht es nun aber um die Werte? Europa zufolge darf Russland nicht länger die europäischen Bemühungen untergraben, das iranische Atomprogramm einzuzäunen und den syrischen Tyrannen zu stürzen. Außerdem verlangt Europa vom autokratischen Russland, endlich gesellschaftsfähig zu werden.

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Aber Putin, der sich nicht scheut, seiner Partei Einiges Russland durch Betrug die Mehrheit in der Duma zu verschaffen und so seine Rückkehr als Präsident bei den Wahlen im März vorzubereiten, hat andere Pläne. Er träumt davon, seinem Land wieder die internationale Macht zu verschaffen, die es zur Zeit der Zaren und des Kommunismus hatte.

Wettkampf einarmiger Ringer

Wenn die Interessen vereinen, und die Werte teilen, dann triumphieren erstere, wie der gestrige Gipfel bestätigte. Der Anschein muss jedoch gewahrt werden. Deshalb spielte Rompuy die umstrittenen Themen herunter und flüsterte dem Besucher aus Moskau die europäische “Besorgnis” bezüglich der “Irregularitäten bei den Parlamentswahlen” nur ins Ohr.

Medwedew hat kein Interesse, der immer lauter werdenden Kritik an seinem Land Waffen in die Hand zu legen, eine offene Konfrontation mit Brüssel heraufzubeschwören und die internationale Isolation Russlands zu vertiefen. Daher sein freundlicher Ton, während Putin in Moskau das Feuer auf Washington eröffnet. Das Timing hätte nicht besser sein können.

Europa steht politisch und finanziell auf wackeligen Beinen. Russland droht erstmals seit einem Jahrzehnt ein Aufstand. Die Auseinandersetzung in Brüssel gleicht also einem Wettkampf einarmiger Ringer. Wie löst die hohe Diplomatie eine solche Situation? Ganz einfach: Sie spricht über Visa-Erleichterungen. Und genau das wurde getan, um doch noch Fortschritte vorweisen zu können. Russland und Europa haben sich darauf geeinigt, eines Tages die Sichtvermerke abzuschaffen. Ist das nicht großartig?

Aus Chişinău

1984 im Jahr 2011

“Es ist wie in 1984, Version 2011”, bemerkt die Tageszeitung Timpulin Chişinău.

Die Stärkung der Partnerschaft mit Russland isoliert Großbritannien noch weiter von der EU. Erinnern Sie sich an die von George Orwell erfundenen Superstaaten? Großbritannien gehörte gemeinsam mit Amerika und Australien zu Oceania; Eurasia umfasste die heutige EU und die ehemalige UdSSR. Der Block der kontinentalen Staaten (Frankreich und Deutschland) beherrscht die EU, und der britische ‘Gleichgewichtsfaktor’ bleibt außen vor.

Es ist eindeutig, so Timpul weiter:

die Westeuropäer nähern sich zunehmend Russland an – “Deutschland verfügt über ein Sicherheitsbündnis mit Moskau, das u.a. den Abzug der russischen Truppen aus Transnistrien und eine getrennte Erdgasversorgung (Nord Stream-Pipeline) umfasst, während Frankreich den Russen Rüstungstechnologie (Kampfschiffe vom Typ Mistral) verkauft.

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