Ideen Europäische Union

Lasst unsere Ideale nicht untergehen!

Der Aufbau der europäischen Union brachte dem Alten Kontinent seinen Wohlstand zurück, doch er hat ihn seine Seele gekostet, bedauert der spanische Philosoph Rafael Argullol. Es ist noch nicht zu spät jene Werte, die Europas Stärke ausmachen zu bejahen, aber wir müssen uns beeilen.

Veröffentlicht am 20 Dezember 2011 um 09:51

Einer der deprimierendsten Aspekte der jüngsten europäischen Katastrophen ist, von der Kurzsichtigkeit der Politiker einmal abgesehen, die Gleichgültigkeit, mit der die Bürger diese zur Kenntnis nehmen. Sie zeigen sich selbstverständlich besorgt hinsichtlich der sozialen und wirtschaftlichen Nachteile, die sie auch treffen könnten, aber es gibt keinerlei Indizien dafür, dass Europa für die Europäer mehr ist, als eine ins Schlingern geratene Währung. Deshalb haben sich auch einige Menschen auch mit der Frage beschäftigt, was das Verschwinden des Euro bedeuten könnte und es scheint, dass niemand besorgt ist über die zivilisatorischen Auswirkungen des Endes des europäischen Traums, die wirkliche Katastrophe, die uns erwartet, wenn nichts dagegen unternommen wird.

Europa - kulturell seit jeher eine geschwächte Macht

Das Gebaren der wiedererstarkten schlimmsten Formen des Nationalismus lassen erkennen, dass das Schiff sich in Seenot befindet und die Angst um sich greift. Je sensationalistischer die Presse der Unzufriedenen ist, desto schärfer fallen die Anschuldigungen aus, wobei am Schlimmsten ist, dass die Bürger entweder angestachelt von den Medien oder aus Eigeninitiative den Spiess gegen einander richten.

Die ultima ratio der gegenwärtigen Krise ist das tatsächliche Fehlen einer spirituellen Perspektive, die das europäische Aufbauwerk in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begleitet hat. Es ist unbestritten, dass in diesem Prozess auch einige Erfolge erzielt wurden, wie beispielsweise die Aufhebung der Grenzen oder die Annahme einer gemeinsamen Währung, aber es mangelte stets am nötigen Mut und Kreativität, um etwas wirklich beflügelndes zu gestalten. Wirtschaftlich ist es nach dem 2.Weltkrieg in Europa gelungen, neuen Wohlstand aufzubauen, aber kulturell ist es doch immer eine geschwächte Macht geblieben, die der vergangenen Größe nachtrauert.

Max Ernst hat diese europäische Niederlage eindrucksvoll in seinem Werk "Europa nach dem Regen" bildlich festgehalten. Mit den Jahren hat sich Europa in materieller Hinsicht zwar aufgerappelt, aber nicht im spirituellen Sinne und somit gewinnt das desolate Landschaftsbild Max Ernsts eine neue Symbolik während des Kalten Krieges und der amerikanischen Vormachtstellung. In dieser Zeit haben sich die Europäer einer allmählichen kulturellen Assimilation hingegeben, in der sich die Merkmale einer eigenen Identität fast völlig aufgelöst haben.

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Das europäische Aufbauwerk zielte eben mehr auf den Magen denn auf das Gewissen der Bürger. Es ist richtig, dass in den ersten fünf Jahren überzeugte Staatsmänner am Werk waren. Als diese dann langsam rar wurden, trat auch die zivilisatorische Brüchigkeit des europäischen Projektes zutage. Die Fortschritten in der Kommunikation und im Warenaustausch haben keine bedeutende Stärkung der Idee von der Zukunft Europas mit sich gebracht: die Europäer haben zwar den ganzen Kontinent bereist, Studenten konnten sogar an den entlegensten Universitäten an Austauschen teilnehmen aber paradoxerweise hat sich diese Dynamik nicht zu einer soliden Architektur geführt, die auf Gemeinschaftssinn beruht. Wir wurden zwar in Amerika oder Asien als Europäer bezeichnet, auf unserem eigenen Kontinent hingegen fühlten wir uns trotz der gigantischen Institutionsapparaten in Brüssel und Strassburg nicht europäisch. Wir teilten zwar eine gemeinsame Geschichte, aber unsere Gegenwart lag im Nebel und unsere Zukunft war unsicher.

Routine statt Enthusiasmus

Das Scheitern dieses Projektes trat besonders krass zutage bei der Annahme der Europäischen Verfassung, einem Dokument, das die dritte Geburt Europas hätte besiegeln sollen – nach dem Römischen und dem Karolingischen Reich – und das sich in der Praxis als wiederholtes Zeugnis der bürokratischen Routine erwies, das nichts vom europäischen Enthusiasmus in sich barg. Schliesslich war die Europäische Verfassung ein trockener Text, der zwar irgendwie auf das gemeinsame geistig-moralische Erbe des Kontinents rekurrierte, der aber nicht in der Lage war, die Bürger aktiv dahinter zu vereinen.

Der Untergang des europäischen Projektes hingegen wäre das Schlimmste, was der Welt widerfahren kann, zumindest aus der Perspektive der Freiheit. Europa hat noch Zeit sich selbst und der Welt zu erklären wieso dies so ist. Als Bürger Europas hätte ich mir gewünscht, dass die europäische Magna Charta unsere koloniale und ausbeuterische Vergangenheit einer wirklichen Selbstkritik unterziehen hätte sollen. Es wäre ein guter Zeitpunkt gewesen, um die Welt an die Errungenschaften des Humanismus zu erinnern sowie an die ureuropäischen Werte der individuellen Freiheit und der kollektiven Demokratie. Der Zeitpunkt war und ist immer noch günstig. Inmitten des Sturms, den wir als "universelle Krise" bezeichnen, ist der einzig gangbare Weg für Europa, der, den Zentralismus des allgegenwärtigen Marktes zugunsten des Gravitationszentrums der Demokratie zu verschieben.

"Verschlafene, kleinlaute, egoistische Europäer"

Durch diese imminent kulturell motivierte Übung könnte Europa seine Stärke beibehalten und sich einen Teil der verlorenen Liebe zurückerobern. Andernfalls würde die endgültige Auflösung des europäischen Projektes den Weg hin zu totalitaristischen Systemen öffnen, die sich einer historisch unerwarteten Beliebtheit erfreuen, als effiziente Gegenmittel zur Krise. Für Putin, die Kommunistische Partei Chinas oder die arabischen Scheichs ist die Freiheit ein Hindernis für das reibungslose Funktionieren des Marktes.

Und genau darauf sollte Europa eben nicht setzen, wenn es den eigenen Stärken treu bleiben möchte. Als historische Heimat der Demokratie hängt die eigene Vitalität davon ab, ob es gelingen wird, die Freiheit als übergeordneten Wert über alle anderen Spielregeln zu verankern, vor allem als Bollwerk gegen die Regeln des grossen Molochs der Spekulation, der alle Bürger der Welt erfasst, allen voran die verschlafenen, kleinlauten und egoistischen Europäern.

Übersetzung aus dem Spanischen von Romana Binder

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