Reykjavik, Blick über den Tjornin-See auf das Rathaus und die Altstadt

Über Inseln und Utopien

Mit ihrem Nein zur Rettung der Banken und der Erstattung der Auslandsschulden ihres Landes haben die Isländer gezeigt, dass es möglich ist, den Gesetzen des Kapitalismus zu entkommen und sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, freut sich ein Historiker.

Veröffentlicht am 23 Dezember 2011 um 14:18
Reykjavik, Blick über den Tjornin-See auf das Rathaus und die Altstadt

Oscar Wilde war der Meinung, es lohne sich nicht, eine Weltkarte anzusehen, auf der die Insel Utopia nicht verzeichnet ist. Die Tatsache, dass Island sich vom Liebling des Spätkapitalismus zu einer echten Demokratie gewandelt hat, legt nahe, dass eine Weltkarte ohne Utopia nicht nur keine Beachtung verdient, sondern auch eine von cleveren Kartografen erfundene Täuschung ist. Ob es den Märkten nun genehm ist oder nicht, der Leuchtturm von Utopia hat begonnen, dem übrigen Europa mit seinen schwachen Signalen einen anderen Weg zu weisen.

Island ist nicht die Insel Utopia. Wir alle wissen, dass es im Reich des Spätkapitalismus keine Freiheit geben kann. Hier tut sich eine dramatische Lücke auf. Island beweist allerdings, dass das Kapital nicht im Besitz der Wahrheit ist, auch wenn es alle verfügbaren Weltkarten kontrolliert. Als Island beschloss, das tragische Rad des Marktes anzuhalten, schuf es einen Präzedenzfall, der dem Spätkapitalismus das Rückgrat brechen könnte. Derzeit scheint die kleine Insel, die das wagte, was alle für unmöglich, weil unwirklich hielten, zwar nicht im Chaos, sondern im Schweigen versunken zu sein. Was wissen wir heute über Island und was über das hochverschuldete Griechenland? Warum sollte uns gerade Island, das nicht ständig Schlagzeilen macht, vor Augen führen, was in der Welt passiert?

Der Leuchtturm von Utopia weist einen anderen Weg

Bislang wussten wir aus Erfahrung, was wirklich ist, und was nicht, was gedacht und getan werden kann, und was nicht. Unsere kognitiven Karten, mit denen wir die komplexen Zusammenhänge der Welt repräsentieren, bergen versteckte Gebiete, in denen die Barbarei der Eliten herrscht. In der Regel wird ihr Gegenteil, die Insel Utopia, in diesen blinden Flecken ausgeschaltet. Walter Benjamin schrieb bereits: Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.

Die von Theologen und Ökonomen geförderten Eliten bestimmen, was wirklich ist und was nicht. Was ihrer Definition der Realität zufolge realistisch ist, und was nicht realistisch ist und daher eine Verirrung darstellt, die nicht einmal angedacht werden kann. Das heißt, was getan und erwogen werden darf, und was nicht. Die dazu erforderliche Macht und Kraft verleiht ihnen das verhängnisvolle Konzept der Notwendigkeit. Es sei notwendig, Opfer zu bringen, sagen sie mit einer müden Geste. Bedingungslose Anpassung oder unvorstellbare Katastrophe. Der Spätkapitalismus lebt seine Logik auf eine pervertierte hegelsche Weise: Alles Wirkliche ist notwendigerweise vernünftig und umgekehrt.

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Im Januar 2009 lehnten die Isländer sich gegen die Willkür dieser Logik auf. Die friedlichen Massendemonstrationen führten zum Sturz des konservativen Premierministers Geir Haarde. Daraufhin wurde eine linke Minderheitsregierung gebildet und die Wahlen auf April 2009 vorgezogen. Vor diesem Hintergrund erreichten die sozialdemokratische Allianz der Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurðardóttir und die grüne Linkspartei die absolute Mehrheit. Im Herbst 2009 wurde infolge einer Volksinitiative und mithilfe einer Nationalversammlungen mit dem Entwurf einer Verfassung begonnen, 2010 schlug die Regierung die Gründung eines Nationalrats vor, dessen Zusammensetzung dem Zufall überlassen werden sollte. Bei zwei Befragungen (die zweite im April 2011) weigerte das Volk sich, die Banken zu retten und ihre Schulden zu bezahlen. Im September 2011 wurde der ehemalige Premierminister Haarde Geeir wegen seiner Rolle in der Finanzkrise vor Gericht gestellt.

Wenn wir annehmen, dass die Welt eine griechische Tragödie ist, in der das Rad des Schicksals oder des Kapitals sich dreht, ohne auf die menschliche Vernunft Rücksicht zu nehmen, dann leugnen wir die Realität. Das Rad wird offensichtlich von Menschen bewegt. Alles, was wir uns als möglich vorstellen können, ist so wirklich wie die Realität der Märkte. Die Möglichkeit und die Vorstellungskraft, deren Island sich wieder entsinnt, sind so wahr wie die pantagruelische Notwendigkeit des Kapitalismus, der behauptet, es gebe keine Alternative. Haben jene, die uns Opfer ankündigen, sich jemals bequemt, die Weltkarte genauer anzusehen?

Die Wirklichkeit der Alternative

Island hat uns gezeigt, dass unsere Karten mehr aussagen, als wir annehmen. Dass es möglich ist, und darin liegt die Freiheit, der Notwendigkeit Herr zu werden. Island ist kein Beispiel. Es weist neue Möglichkeiten auf. Die feste Absicht der Isländer, die Zukunft mit ihren eigenen Entscheidungen und Ideen aufzubauen, beweist die Wirklichkeit der Alternative. Weil die vom Volk angestrebte Wahlmöglichkeit so realistisch ist wie die Notwendigkeit des Kapitals. Island will nicht gestatten, dass das tragische Rad der Notwendigkeit die Zukunft diktiert. Werden wir es weiterhin zulassen, dass die Wirklichkeit vom Kapital definiert wird? Werden wir weiterhin die Zukunft, die Wahlmöglichkeit und das Vorstellungsvermögen allein den Banken, Unternehmen und Regierungen überlassen, die behaupten, alles zu tun, was real getan werden kann?

Alle Europakarten sollten auf Island ausgerichtet sein und auf der Gewissheit aufbauen, dass das Mögliche so wirklich ist wie das Notwendige. Die Notwendigkeit ist nur eine weitere Möglichkeit der Wirklichkeit. Es gibt Alternativen. Island hat uns daran erinnert, als es uns vor Augen führte, dass Vorstellungskraft zur Vernunft gehört. Das Volk definiert, was real und was realistisch ist, weil es Unterschiede ermöglicht. So trösten wir nicht die Träumer, sondern erobern den Teil der Wirklichkeit, den das Kapital auf seiner Karte auszulöschen sucht. Der Weiterbestand von Utopia hängt davon ab. Und damit das Konzept eines lebenswerten Lebens.

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