Der Mythos der Gleichheit ist zu Ende

Ob das Projekt über den europäischen Vertrag, die Herabstufung von neun Ländern durch Standard & Poor’s oder die Zurechtweisungen Ungarns – alles zeigt heute, dass die Stärkeren in der EU dabei sind, den Kleineren ihre Gebote aufzuzwingen, bedauert ein polnischer Journalist.

Veröffentlicht am 17 Januar 2012 um 15:25

Nach den Ereignissen der letzten drei Wochen ist nun endgültig Schluss mit der Scheinheiligkeit der Europäischen Union. Sie kann keinem mehr weismachen, dass die Staaten, aus denen sie besteht, zwar nicht gleich aber doch gleichberechtigt sind.

Erstens hat die Eurozone beschlossen, im kleinen Kreis zu tagen, zu beratschlagen und Entscheidungen zu treffen. Ohne die anderen und somit ohne uns [Polen]. Das untergräbt und beschneidet sowohl die Rolle der Europäischen Kommission, die sich seit ihrer Bildung auf das Prinzip der gleichberechtigten Staaten stützt, als auch die des Parlaments, dessen Sitze proportional zur Bevölkerungszahl unter den Ländern aufgeteilt werden. Wird der Europäische Stabilitätspakt in seiner aktuellen Form verabschiedet, dann kommt das einer Union innerhalb der Union gleich. In vielen Fragen wird diese eingeschränkte Union den anderen ihre Bedingungen auferlegen, so wie es das “Merkozy”-Duo schon heute tut.

Ohne Merkel geht nichts

Zweitens wird sich die Entscheidung, das finanzielle Rating von neun Ländern der Eurozone herabzustufen, nicht unbedingt auf die Zinssätze ihrer Anleihen auswirken (das verminderte Rating der USA hatte keinerlei derartigen Einfluss und die Anleihen Italiens sind heute günstiger als zu Zeiten seiner besseren Bonität). Die Herabstufung beeinflusst jedoch ganz gewiss die informelle Hierarchie unter den Mitgliedsstaaten und das Gewicht ihrer Stimme innerhalb der Union. So wird die Vormachtstellung Deutschlands, das sein Rating ja behalten hat, deutlich bestärkt. Ebenso seine vorsichtige Sparpolitik. Deutschland wird voraussichtlich noch günstigere Anleihen aufnehmen können, seinen Markt weiter ankurbeln und somit seinen wirtschaftlichen Vorsprung gegenüber dem restlichen Europa noch ein bisschen weiter ausbauen.

Demzufolge werden die quantitativen Kriterien des Vertrags von Lissabon (doppeltes Kriterium zur Berechnung der qualifizierten Mehrheit im europäischen Rat: Anzahl der Staaten und demografisches Gewicht) gegenüber der zunehmenden Rolle der qualitativen Kriterien (Qualität des Staats und seiner Wirtschaft) an Bedeutung verlieren. Auch “Merkozy” wird abbauen und aus dem Gleichgewicht kommen, weil Merkel gegenüber Sarkozy zu mächtig ist. Es wird noch schwieriger sein, in Europa irgendetwas ohne Deutschland zu unternehmen. Und die anderen 26 Mitgliedsstaaten werden nichts gegen die Deutschen tun können (höchstens, vielleicht, die Union sprengen).

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Die “Alten” gegen die “Jungen”

Der Entscheidungsprozess und die Aufteilung der Stimmen innerhalb des Parlaments, der Kommission und des Rats, die im Vertrag von Lissabon so mühselig ausgehandelt wurden, gehen in Scherben. Eine gewisse Zeit lang wird die Union so sein wie der Fußball damals, als alle spielten, aber nur Deutschland gewann.

Drittens, die verschärften Worte und die Verhärtung der politischen Entscheidungen gegenüber Ungarn zeigen, dass sich manche Länder in der EU mehr erlauben können als andere. Gewiss, Orbáns Äußerungen sind verabscheuenswert und er führt eine idiotische Wirtschaftspolitik. Doch in institutioneller Hinsicht hat er nichts getan, was in anderen Ländern nicht toleriert würde. Sein Angriff auf die Medien ist nicht anti-libertärer als Sarkozys Verhalten gegenüber dem öffentlichen französischen Fernsehen und davor Berlusconis Vorgehen mit den italienischen Medien. Die BBC hingegen war bei der Ernennung ihrer Direktoren schon immer auf die britische Regierung angewiesen.

Ebenso wird die ungarische Zentralbank jetzt keineswegs abhängiger von der Regierung sein als die Bank of England oder die Federal Reserve in den USA. Die internationale Gemeinschaft hat ähnliche Vorgehensweisen in Frankreich, Italien, England oder den USA gleichmütig toleriert und tut dies auch heute noch – nicht etwa weil sie unbemerkt geblieben wären oder weil sich niemand traute, den Großmächten Vorwürfe zu machen, sondern ganz einfach weil sie nichts Verwerfliches daran sah. Die alten, großen Demokratien profitieren, ganz wie die deutschen Staatsanleihen, vom Vertrauensvorschuss, der den jungen, kleinen Demokratien immer gefehlt hat.

Scheinheiligkeit des Gründungsmythos

In gewissem Maß hat es diese Unterschiede schon immer gegeben und sie haben auch schon immer gezählt. Nur werden sie heute offen ausgedrückt und ohne Zögern institutionalisiert. Keiner kennt die langfristigen Konsequenzen für Polen und die EU. Allgemein wirkt sich die Anpassung der (institutionellen) Form an den (z.B. wirtschaftlichen) Inhalt so aus, dass die Institutionen rationalisiert werden. Doch heute haben wir es mit Emotionen zu tun, also mit Politik.

Die emotional und politisch verstärkten Unterschiede, die offen gelegten und institutionalisierten Unterschiede werden für alle unbequem. Viele Länder werden es noch schwerer haben, Deutschlands Stellung innerhalb der EU zu akzeptieren. Deutschland wird es hingegen noch schwerer haben, die Bemühungen hinsichtlich von Solidarität und Selbsteinschränkung weiter aufrechtzuerhalten.

Das bedeutet, dass wir zusätzlich zu den wirtschaftlichen Spannungen und zur Innenpolitik noch große internationale Spannungen und wesentliche Entscheidungsprobleme erwarten müssen. Zumindest bis eine neue Logik die Scheinheiligkeit des Gründungsmythos der EU ersetzt. Das wird nicht schnell und auch nicht mühelos geschehen. (pl-m)

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