Mario Monti: “Also, soll ich Sie nun verarzten oder nicht ?” “Ja, aber mit ein bißchen Fantasie, Doktor!”

Die Stunde des Wettbewerbs hat geschlagen

Erst sparen, dann liberalisieren. Mario Monti hat “Phase zwei” seines Krisenprogramms eingeläutet: Ein umfangreiches Vorhaben, das bisher geschützte Aktivitäten – wie Taxi- und Fernfahren – für den Wettbewerb öffnen will. Allerdings birgt diese begrüßenswerte Veränderung auch ihre Risiken, warnt ein Wirtschaftsexperte.

Veröffentlicht am 26 Januar 2012 um 15:12
Mario Monti: “Also, soll ich Sie nun verarzten oder nicht ?” “Ja, aber mit ein bißchen Fantasie, Doktor!”

Es ist soweit! Die “Liberalisierungen” haben begonnen. Die Öffnungszeiten der Geschäfte wurden bereits verlängert [seit dem 1. Januar dürfen Geschäfte, die es wollen, 24 Stunden am Tag öffnen]. Und bald schon braucht man in bisher noch stark reglementierten Bereichen nicht mehr so viele bürokratische Formalitäten erledigen: Apotheken, Taxifahrer, Pressebüros, liberale Berufe, usw. Kurz: Eine kolossale Wettbewerbswelle wird über die Halbinsel schwappen.

Um das Ausmaß des Ganzen zu verstehen, darf man Folgendes nicht vergessen: In den vergangenen Jahren ist die Kluft zwischen den geschützten und den dem internationalen Wettbewerb – und insbesondere der Schwellenländer – gegenüber geöffneten Branchen in Italien immer grösser geworden. In den für den Wettbewerb offenen Sektoren, d.h. fast die ganze verarbeitende Industrie und Teile des Dienstleistungssektors, führte dies in den letzten zwanzig Jahren zu gravierenden Veränderungen: Massiver Preisdruck, verschärfte Konkurrenz auf ausländischen und italienischen Märkten, Innovationspflicht, usw.

Auf der anderen Seite werden wichtige Bereiche der italienischen Wirtschaft vor der chinesischen oder brasilianischen Konkurrenz geschützt. Normalerweise handelt es sich dabei um außergewerbliche Bereiche mit zahlreichen Dienstleistungen, was die Unterschiede beider Sektoren problematisch verstärkt. Denken wir nur einmal an die mehreren tausend Arbeitnehmer, die ihren Job verloren haben, weil die Fertigungsbetriebe nicht ausreichend wettbewerbsfähig sind, und die hunderten von Unternehmern, die Selbstmord begangen haben. Darüber hinaus liegt das Einkommen der Selbständigen im Vergleich zu dem der Angestellten der liberalisierten Branche durchschnittlich höher.

Erbarmungslose Konkurrenz aus China und Indien

Ist es gerecht, dass einige Sektoren der erbarmungslosen Konkurrenz Chinas oder Indiens ausgeliefert sind, während andere mittels Lizenzen höhere Preise durchsetzen können? Ist es gerecht, dass ein junger Diplom-Ingenieur monatlich 1.600 Euro netto verdient, während der Durchschnittsverdienst eines Notars bei 5.000 bis 7.000 Euro netto liegt? Ist es gerecht, dass ein Taxifahrer jeden Monat zwischen 3.500 und 5.000 Euro verdient, während ein Arbeiter eines Eisenwerks gerade einmal mit 1.150 Euro nach Hause geht?

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Überdies wird dieses Liberalisierungsprogramm die Preise und das Einkommen der Lizenzinhaber drücken. Mehr Wettbewerb bedeutet natürlich auch Vorteile für die Kunden, niedrigere Preise, mehr Erfindungsreichtum und bessere Dienstleistungen. Alles in allem sollen die Liberalisierungen dazu dienen, die Verbraucherinteressen zu schützen. Und das ist eine gerechte Sache. Aber nicht nur. Verlängert man nämlich beispielsweise die Öffnungszeiten, dann fördert man damit ganz eindeutig große Handelsketten zu Lasten des Einzelhandels. Liberalisiert man Taxi-Lizenzen, dann löst man damit Veränderungen innerhalb der Branche aus. In New York erkennt ein Tourist schnell, dass fast alle Taxifahrer Einwanderer der ersten Generation sind. Oft handelt es sich um Afrikaner, die gerade in den Vereinigten Staaten angekommen sind. In US-amerikanischen Städten hamstern Unternehmen Lizenzen und Autos und machen aus den Fahrern unterbezahlte Angestellte. Sind wir uns sicher, dass wir solch tiefgreifende soziale Veränderung wollen?

Ein offenes System mit vielen offenen Fragen

Außerdem soll jungen Menschen mit den Liberalisierungen der Zugang zu bestimmten Sektoren erleichtert werden: Junge Architekten, junge Pharmazieabsolventen, junge Taxifahrer, usw. Reißt man alle Schranken der reglementierten Branchen ein, haben Arbeitssuchende plötzlich auch mehr Berufsaussichten. Doch bleiben zwei Fragen offen: Wie organisiert man den Übergang von einem nicht kommerziellem System (Italiens momentane Wirtschaft) zu einem offenen System? Sind wir sicher, dass wir die sozialen Folgen dieses Wandels – eine totale Marktwirtschaft – wirklich wollen? Wenn die kleinen Geschäfte nach und nach schließen, werden sich dann nicht auch die Städte tiefgreifend verändern? Es bringt nichts, Taxifahrer und Einzelhändler zu verteufeln. Man sollte ein offenes Ohr für ihre Ängste haben. Kurzum: Es darf nicht alles schwarz oder weiß gemalt werden. Die Probleme sind komplex und es braucht dauerhafte Lösungen. Eben das Ganze Gegenteil von diesem oberflächlichen, politischen Gehabe, das man uns seit 20 Jahren auftischt. (j-h)

Demonstrationen

Ein gelähmtes, unzufriedenes Land

Die von den Liberalisierungsmaßnahmen und Steuererhöhungen betroffenen Berufsgruppen sind in den vergangenen Tagen in den Streik getreten, berichtet La Repubblica. Den Startschuss gaben die Fernfahrer: Um gegen die Erhöhung der Treibstoffpreise zu protestieren, sperrten sie die Autobahnen. Nun fehlt es in mehreren Städten langsam an frischen Lebensmitteln. Mangels Materials und Bauteilen müssen zudem zahlreiche Fabriken schließen. Im ganzen Land streiken Taxifahrer gegen die Liberalisierung der Taxi-Lizenzen und Fischfänger gegen überteuerte Treibstoffe.

Unterdessen schließen sich in Sizilien und Sardinien immer mehr Menschen dem Movimento dei Forconi (“Protestbewegung der (Mist)-Gabeln”) an, zu der sich die zunehmend unzufriedenen Landwirte, Handwerker, Studenten und Separatisten zusammengeschlossen haben.

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