Wie die Armut die Mittelschicht erreichte

Die Arbeitslosigkeit in der Union erreicht Höchstmarken. Heute sieht sich ein Viertel aller Europäer, die bisher noch einen anständigen Lebensstandard besaßen, der Gefahr ausgesetzt, ins soziale Abseits zu gelangen.

Veröffentlicht am 1 Februar 2012 um 16:22

Dimitris Pavlópulos bezieht eine monatliche Rente von 550 Euro und muss rund 150 für Medikamente ausgeben. Die Kürzungen der Beihilfen zwingen ihn heute manchmal zur Wahl zwischen einem Liter Milch (1,50 Euro) oder einem Medikament, denn beides gleichzeitig kann er sich nicht mehr leisten.

Manuel G. ist Langzeitarbeitloser. Er trauert den Anfangszeiten der Krise hinterher, als man noch hoffen konnte, vielleicht 1000 Euro zu verdienen. Seit drei Jahren ist der Bürokaufmann ohne Job. Arbeitslosengeld bekommt er nicht mehr. Da er nicht ins Elternhaus zurückkehren kann, mietet er ein Zimmer und geht zur Essens- und Kleidungsausgabe einer Wohltätigkeitsorganisation.

Das sind die Opfer der Krise: Menschen, die bis vor kurzem noch zur oberen oder auch unteren Mittelschicht gehören, sind heute die neuen Armen.

Menschen, die wählen müssen, ob sie sich eine warme Mahlzeit gönnen oder die Wohnung heizen, ob sie ihren Immobilienkredit zurückzahlen oder etwas zu Essen kaufen. Es sind Beispiele, die das traditionelle Bild der Armut, des Bettelns, in Frage stellen. Die Armut ist heute zunehmend zur Normalität geworden. “Leute, die früher ehrenamtlich tätig waren, müssen heute selbst zu den Wohlfahrtsorganisationen”, erklärt Jorge Nuño, Generalsekretär von Cáritas Europa.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Nach Angaben der Europäischen Union galten 2009 auf dem Gebiet der 27 EU-Länder 115 Millionen Menschen nach den EU-Kriterien von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen (23,1 Prozent der Gesamtbevölkerung). “Ganz zu schweigen von den 100 oder 150 Millionen anderen, die auf der Kippe stehen”, erklärt Jorge Nuño, “denn zwei Monate ohne Arbeit und eine Hypothek reichen, jemanden völlig zu zerstören.” 2007 lebten 85 Millionen Europäer unterhalb der relativen Armutsgrenze. Zu den betroffenen Ländern gehören Griechenland, Spanien und Irland, “aber auch Frankreich, Deutschland und Österreich”, notiert Jorge Nuño.

Überall verlief die Talfahrt nach demselben Schema: private Schulden, Kürzungen der Hilfen des Wohlfahrtsstaats, prekäre Arbeitsplätze, wie beispielsweise die Millionen Stellen die im spanischen Bausektor gestrichen wurden.

Viele junge Menschen in heikler Situation

Wie wird Armut gemessen? Es gibt zwei Arten: die moderate oder relative Armut (60 Prozent des Durchschnittseinkommens des Landes) und die schwere Armut (40 Prozent). “Die meisten der Armen sind von dieser Schwelle immer weiter entfernt. Die Armen werden ärmer, und in den Suppenküchen sehen wir Menschen, die früher niemals hätten kommen müssen. Insbesondere unter den Kindern hat die Armut spektakulär zugenommen — jedes vierte Kind in Spanien lebt in Armut. Nicht ganz so schlimm sieht es bei Migranten und jungen Menschen aus”, erklärt der Soziologe Paul-Mari Klose vom Hohen Rat für Wissenschaft und Forschung.

“Man schnallt den Gürtel enger. Man schafft es nicht, bis zum Monatsende über die Runden zu kommen. Man isst Fleisch weniger als zweimal die Woche. In Spanien, wie in Griechenland, Portugal oder Spanien, hat sich die Armut eher verschlimmert als verallgemeinert. Bestimmte soziale Gruppen sind betroffen. Während des Wirtschaftsbooms haben sich viele junge Menschen sehr frühzeitig emanzipiert und befinden sich heute in heiklen Situationen. In Island hat die Armut vor allem unter den jungen Menschen spektakulär zugenommen”, führt Paul-Mari Klose aus.

Die Statistiken von Eurostat über Armut und Ausgrenzung zeigen, dass sich Länder wie Portugal, Irland, Griechenland und Spanien, aber auch die kürzlich der EU beigetretenen Länder Osteuropas immer mehr annähern. Doch auch in solideren Staaten sind immer größere Bevölkerungsschichten betroffen. Und die Vorzeige-Wohlfahrtsstaaten sind baden gegangen, wie beispielsweise Island nach dem Zusammenbruch seines Bankensystems.

Hinter dem europäischen Durchschnitt verstecken sich aber große Unterschiede. Laut Eurostat ist die Ziffer der Armutsgefährdeten in Bulgarien (46,2 Prozent) und Rumänien (43,1 Prozent) doppelt so hoch. Am anderen Ende des Spektrums befinden sich die Tschechische Republik (14 Prozent), die Niederlande (15,1 Prozent), die Schweiz (15,9 Prozent). Mit 23,4 Prozent liegt Spanien im mittleren Bereich, weshalb diese Tatsache unbemerkt blieb. Doch das strukturelle Risiko (rund 20 Prozent im Jahr 2007), verbunden mit dem Defizit der Sozialversicherung und mit Rekordarbeitslosigkeit, deuten auf eine düstere Zukunft.

Kinder, ältere Menschen, Frauen und Migranten sind traditionell am stärksten gefährdet: Alter, Geschlecht und ethnische Herkunft sind Faktoren, welche Armut verschlimmern. Heute kommen noch unzählige Durchschnittsbürger dazu, die unter den Kürzungen der Sozialleistungen leiden, was die Krise noch weiter zuspitzt.

Hunger ist Realität geworden

Es sind Menschen, die “in prekären Arbeitsverhältnissen sind, über kein ausreichendes Einkommen verfügen und dennoch noch keine weiteren Hilfen vom Staat bekommen. Menschen zwischen 35 und 40 Jahren, die mit oder ohne Kinder aufgrund ihrer Arbeit keine weiteren Ansprüche auf Sozialleistungen haben. Und da sie ihre Immobilienkredite nicht mehr zurückzahlen können, müssen sie wieder zu ihren Eltern ziehen”, erklärt Joan Subirats von der Autonomen Universität Barcelona.

“Andere soziale Gruppen werden besser beobachtet, aber die Mittelschicht ist keine Priorität.”

Die buchstäbliche völlige Entkräftung von immer mehr Europäern ist nicht nur ein soziales Problem, sondern hat auch politische Auswirkungen. Immer mehr Bürger fühlen sich an den Rand gedrängt.

Zwar warnen die Experten davor, aus den “neuen Armen” die einzigen Opfer der Krise zu machen, und betonen, dass für die Menschen, die vorher schon arm waren, sich die Lage noch weiter verschlimmert habe. Es bleibt dennoch die Tatsache, dass die Krise nach fünfzehn vorangegangenen Jahren des Booms und der Neureichen eine Bevölkerungsgruppe getroffen hat, die bis 2007 für ihre eigenen Grundbedürfnisse selbst aufkommen konnte.

Der Alptraum der neuen Armut ist aber komplexer. Für die Länder, die erst jüngst der EU beigetreten sind, liegt die Hauptlast im strukturellen Defizit, das sie aus der Vergangenheit geerbt haben: In den meisten Fällen handelt es sich um Länder der Ex-Sowjetunion, die im Eiltempo reformieren, wie beispielsweise Lettland (37,4 Prozent der Menschen sind von Armut und Ausgrenzung bedroht), Litauen, Ungarn, Bulgarien und Rumänien.

In Griechenland ist das Gespenst des Hungers eine harte Realität geworden. Der 75-jährige Dimitris Pavlópulos überlebt dank der Hilfe von Ärzte ohne Grenzen. Seit mit dem ersten Sparpaket von 2010 zahlreiche Hilfen gestrichen wurden, gibt der Rentner seine Pension in nur 10 Tagen aus. Danach ist er für Essen und Medikamente von Nichtregierungsorganisationen abhängig.

Das Europäische Jahr zur Bekämpfung von Armut und sozialer Ausgrenzung im Jahr 2010 blieb völlig unbemerkt. Als Abschluss der Lissabon-Strategie sollte es “einen entscheidenden Beitrag zur Bekämpfung der Armut” leisten und die Strategie Europa 2020 auf die rechte Bahn bringen. Die Krise hat mittlerweile alle guten Absichten begraben. Das Hauptziel der Strategie 2020, nämlich die Zahl der Armen in Europa bis Ende des Jahrzehnts auf 20 Millionen zu senken, wird vermutlich pures Wunschdenken bleiben. (js)

Arbeitslosigkeit

Die zwei Gesichter Europas

“Europa geht stempeln”, titelt die Gazeta Wyborcza und kommentiert die jüngsten Arbeitslosenquoten im Bericht der europäischen Statistikbehörde Eurostat.

Die Zahl der Arbeitslosen in Europa ist im vergangenen Jahr um über mehr als eine Million gestiegen und die Eurozone hat heute ein Rekordhoch von 10,4 Prozent erreicht.

Am bittersten sei die Lage in Südeuropa, vor allem in Spanien und Griechenland, wo fast jeder zweite junge Mensch ohne Job und die Arbeitsmarktbedingungen “dramatisch” seien. Am anderen Ende sei Österreich das EU-Land mit der geringsten Arbeitslosenquote (4,1 Prozent), gefolgt von anderen Staaten Nordeuropas: die Niederlande (4,9 Prozent) und Deutschland (5,5 Prozent), notiert Gazeta.

Die Kluft zwischen dem wohlhabenden Norden und dem krisengeschüttelten Süden wird größer. Blickt man auf den Arbeitsmarkt, dann sind das praktisch zwei verschiedenen Welten.

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema