Polizei-Razzia gegen Drogendealer in der Cité von Bassens, im verrufenen Norden von Marseille, 12. Januar.

Marseille, das Imperium der Dealer

2013 wird Frankreichs zweitgrößte Stadt europäische Kulturhauptstadt. Vorerst macht Frankreichs zweitgrößte Stadt aber vor allem wegen der Bandenkriegen von sich reden, und wegen der Drogendealer, die mit vorgehaltener Kalaschnikow ganze Viertel kontrollieren.

Veröffentlicht am 3 Februar 2012 um 14:53
Polizei-Razzia gegen Drogendealer in der Cité von Bassens, im verrufenen Norden von Marseille, 12. Januar.

Nachts macht ein Zivilauto der Antikriminalitätsbrigade (BAC) in den nördlichen Vierteln von Marseille unaufhörlich seine Runde. In jeder Cité [Sozialwohnungsblock und sozialer Brennpunkt”] ist es das gleiche Schema. Sobald nur der Kühler des Polizeiautos sichtbar wird, erschallt das “Arrraaah!” von Häuserblock zu Häuserblock, von Wohnhaus zu Wohnhaus, von Treppenhaus zu Treppenhaus.

Die Späher, Kinder, nicht älter als 15 Jahre alt, wachen mit Argusaugen über den Drogenhandel. Manchmal wird das Auto von ein, zwei Motorrollern eskortiert, bis es die Cité wieder verlässt. Font-Vert, le Clos la Rose, la Castellane... in allen Vierteln regiert, organisiert, strukturiert der Drogenhandel.

Seit drei Jahren liefern sich diese Viertel einen Krieg, der die Stadt in Blutbäder verwandelt. In seinem Büro im Hauptquartier der Polizei in Evêché zieht der Chef der Marseiller Kriminalpolizei Roland Gauze Bilanz: “2010 haben wir in Marseille 54 Morde und Mordversuche gezählt, von denen 17 Abrechnungen der Dealer untereinander waren; 2011 waren es 38 Morde und Mordversuche, von denen 20 auf die Drogenhändler gingen.”

Eigentlich ein ruhigeres Jahr, das aber durch einen besonders tödlichen Dezember verdorben wurde. Fünf Tote in vier Wochen. Fünf junge Männer, unter ihnen ein Polizist, die durch Kalaschnikow-Salven starben. Die Opfer waren zwischen 18 und 38 Jahre alt. Sie waren der Polizei mehr oder weniger bekannt, da sie alle zu höheren oder niedrigeren Graden in den Drogenhandel verstrickt waren.

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“Man tötet, um leicht an schnelles Geld zu kommen”, erklärt Yves Robert. Er ist Beauftragter der SNOP, der Gewerkschaft, der die Offiziere größtenteils angehören.

Wie ein klassisches Unternehmen

In einer Stadt, in der Einige die Ruhe während der Ausschreitungen im November 2005 damit erklären, dass die Dealer die schwierigen Viertel beherrschen, zweifeln selbst die Polizisten an der Entschlossenheit ihrer Vorgesetzten. “Wir lassen sie machen”, bestätigt einer von ihnen. Innerhalb von 20 Jahren wurde die Zahl der Beamten der Drogenfahndung in der Region halbiert.

“Wir haben es mit immer jüngeren, impulsiveren und unvernünftigeren Leuten zu tun”, stellt Kripo-Chef Roland Gauze fest. Jedes Netzwerk umfasst ein Dutzend Jugendlicher zwischen 14 und 25 Jahren. Sie haben ein “System”, das sich teilweise in mehrere Verkaufsstellen unten in den Treppenhäusern aufteilt. Jedes “System” ist streng organisiert und diszipliniert.

“Im Endeffekt funktioniert es wie ein klassisches Unternehmen, ein bisschen wie eine Zeitarbeitsfirma”, beschreibt die Soziologin Claire Duport das Geschehen. Sie arbeitet seit mehreren Jahren in den Nordvierteln von Marseille.

Jeden Morgen teilt ein Boss die Arbeit ein, platziert seine Männer auf ihren Posten und passt auf, dass keiner einschläft oder sich ablenken lässt. Im Allgemeinen wechseln sich täglich zwei Teams ab, um den Verkauf zu sichern.

Ein oder zwei Späher, “Chouffes” genannt, stellen sich an einem ausgewählten Platz in der Cité auf und bewegen sich von dort nicht weg, bis sie abgelöst werden. In einem Rechnungsbuch, das bei der Zerschlagung eines Drogennetzwerkes im vergangenen November in der Cité de la Visitation beschlagnahmt wurde, war die Kostenerstattung für Essen während der Arbeitszeiten genauestens aufgezeichnet.

Dann gibt es da noch die Treiber, die man mit Handelsvertretern vergleichen kann, eine Art von Außendienstmitarbeitern, die sozusagen den Kunden aufspüren, und den Eindecker, der sich um den Nachschub kümmert. Sein Einkommen ist höher. Der “Kohlenhändler” ist der Verkäufer.

Schließlich gibt es die “Ammen”, die mit dem konkreten Drogenhandel nichts zu tun haben. Diese Personen bekommt man nie zu Gesicht. Sie haben auch keine Einträge im Führungszeugnis. Meistens handelt es sich um alleinerziehende Frauen, die extrem arm sind und in unklaren Verhältnissen leben.

Zwischen 1 500 und 10 000 Euro im Monat

In Marseille ist mehr als jede zehnte Familie alleinerziehend. Dreimal mehr als im Rest Frankreichs. Diese Frauen bekommen ein Gehalt, mit dem sie die Miete zahlen oder den Kühlschrank füllen können. Dafür müssen sie bei sich in der Wohnung oder in ihrem Keller Drogen und manchmal auch große Geldsummen verstecken.

Von derartigen Netzwerken gibt es Dutzende. “Man kann unmöglich eine genaue Zahl nennen”, gibt Roland Gauze vorsichtig an. Jeder achtet mit gezücktem Revolver sorgsam darauf, sein Gebiet und seinen Marktanteil zu verteidigen. Eine Kalaschnikow ist das Nonplusultra, ein offensichtliches Zeichen der Macht, das die Pump Gun aus vergangenen Zeiten ersetzt hat.

Eine solche Maschine ist laut. Sie macht Eindruck. Doch die letzten Beschlagnahmungen haben der Phantasievorstellung einer Maschinenpistolenwelle im alten Hafen Vieux-Port ein Ende gesetzt. Häufig handelt es sich um alte Waffen, die schon benutzt worden sind.

Bei jeder Operation sieht die Beute der Ermittler ungefähr gleich aus: Einige Dutzend Kilo Haschisch, einige tausend Euro Bargeld und einige Waffen. In der Cité Visitation reichten die kleinsten Monatsgehälter von 5 000 Euro (für Späher) bis zu 10 000 Euro für den “Kohlenhändler”. Häufig übersteigt das Einkommen jedoch nicht 1 500 Euro pro Monat, selbst nicht für den Kleindealer. “Viele junge Leute verdienen in Wirklichkeit nur wenig Geld, sind aber Spieler”, erklärt Claire Duport.

Die Sozialarbeiter haben es immer schwerer, gegen diese Versuchung anzukommen. Dazu muss man sagen, dass die Stadt Schwierigkeiten anhäuft: Hohe Arbeitslosigkeit, ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung hat keinen Abschluss und ein Drittel der Einwohner lebt mit weniger als 832 Euro monatlich. Das ist die Armutsgrenze.

“Das Problem kann unmöglich von der Polizei allein gelöst werden”, gibt der Polizist Jean-Louis Martini zu. Er ist Regionsverantwortlicher der Gewerkschaft Synergie-Officiers. Vor einem Jahr hat die Kripo in der Cité de la Busserine ein gewöhnliches Netzwerk ausgehoben, eines von vielen. Vier Dealer um die 20 Jahre. Bei den Hausdurchsuchungen beschlagnahmten die Ermittler 25 Kilogramm Haschisch und 6000 Euro Bargeld.

Der Verkauf ging täglich von mittags bis Mitternacht. Es kamen knapp 300 Kunden pro Tag, die durchschnittlich 15 000 Euro hinterließen. Heute sind in der Busserine die Späher wieder da. Ein anderes Netzwerk hat das Geschäft übernommen. Der “Kohlenhändler” hat sogar seinen bequemen Chefsessel vor einer der Eingangshallen. Die Marseiller Cités fürchten die Leere.

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