Eurokraten Blues

Der am 7. Februar 1992 unterzeichnete Maastrichter Vertrag verlieh der EU-Kommission und ihren Beamten Entscheidungsbefugnisse wie nie zuvor. Zwei Jahrzehnte später ist ihr Traum am Vorrang der Wirtschaft vor der Politik gescheitert, und die Krise hat sie zu Sündenböcken gemacht.

Veröffentlicht am 6 Februar 2012 um 15:49

Im Brüsseler Europaviertel kommt man sich vor, wie in einem besonders schauerlichen Krimi. Der Rond-Point Schuman in unmittelbarer Nähe der europäischen Institutionen ähnelt seit einem Jahr einem bedrückenden Großstadtdschungel. Kräne, Betonmischer und Baugerüste haben sich im administrativen und politischen Zentrum der Europäischen Union breit gemacht, dem der in Brüssel häufig anzutreffende Nieselregen den Charme eines Gewerbegebiets verleiht.

Vor 2014 sollen die Bauarbeiten nicht beendet sein, wobei bereits Verspätungen angekündigt wurden. Eine unbarmherzige Symbolik. Hier befindet sich die Hochburg der “Eurokraten”, auf deren Giebel noch die “Gründerväter” geehrt werden: natürlich Schuman, aber auch Jean Monnet, Alcide de Gasperi und weniger bekannte Persönlichkeiten wie Emile Noël, von 1967 bis 1987 unumgänglicher Generalsekretär der Kommission.

Noch häufiger trifft man allerdings auf einen anderen Namen, nämlich Jacques Delors, von 1985 bis 1995 Präsident der Kommission. Der ehemalige französische Minister ließ mit Unterstützung des Duos Kohl-Mitterand am 7. Februar 1992 durch die Unterzeichnung des Maastrichter Vertrags über die Währungsunion die Eurokratie aus dem Schatten treten. Delors, oder der Präsident, der sich den Staats- und Regierungschefs widersetzte, es der Presse angetan hatte und die Union verkörperte.

Zwanzig Jahre später spricht Jacques Delors immer noch. Am 7. Februar wird er in Brüssel Maastricht gedenken. Die Eurokratie verfügt jedoch bei weitem nicht mehr über den Schwung der damaligen Zeit. Die folgenden Etappen – die Erweiterung um zwölf neue Mitgliedstaaten zwischen 2004 und 2007, das französische und niederländische “Nein” zum längst begrabenen Verfassungsprojekt, die umstrittene Verabschiedung des Lissabonner Vertrags und schließlich die Finanzkrise – haben ihr den Todesstoß versetzt.

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Der Euro hat uns jeglichen Schwung genommen

Zweifel haben sich breit gemacht in den 13 Etagen des aufgrund der Asbestbelastung für einen schwindelerregenden Preis renovierten Berlaymont-Gebäudes, Hauptquartier der Kommission und Tagungsort der 27 Kommissare und ihrer Mitarbeiter.

“Als die Union von 15 auf 27 Mitgliedstaaten erweitert wurde, mussten wir ca. 15.000 neue Beamte aufnehmen, die meisten von ihnen aus den neuen Mitgliedsstaaten – stellen Sie sich die Umstellung vor”, erinnert sich ein ehemaliger Mitarbeiter Neil Kinnocks, früher Vorsitzender der britischen Labour Party und 2004 für Personal und Verwaltung zuständiger EU-Kommissar.

Jean Quatremer, Korrespondent der französischen Tageszeitung Libération in Brüssel, siedelt den “Bruch” schon früher an, nämlich im März 1999, als die von Jacques Santer geleitete Kommission aufgrund der Skandale um die französische Kommissarin Edith Cresson zurücktrat.

In den 2000er Jahren ging die Transparenzpflicht den Bach hinunter. Umfangreiche Aufnahmeprüfungen wurden zur Regel. Karrieredenken breitete sich aus. Englisch ersetzte Französisch als meistgesprochene Sprache. Lobbys durchdrangen das System. Man verherrlichte den Export von EU-Normen. Der Binnenmarkt und der Wettbewerb wurden zu Prioritäten gemacht, und in Zukunft sollten Wirtschaft und Finanzen Vorrang vor der Politik erhalten.

Indem die Staatsverschuldungskrise den Euro destabilisierte, hat sie die EU-Verwaltung ins Herz getroffen. Deren unerbittlicher Körperschaftsgeist hatte bisher jegliche Kritik an ihr abprallen lassen. Die vierzigjährige Griechin Diana ist Leiterin einer Stelle beim Europäischen Rat. Sie bestätigt: “Die Einheitswährung hat uns ein Konzept verliehen, hat uns aber jeglichen Schwung genommen.”

Was sie damit sagen will? “Bei der Einführung des Euros wurde die EU mit einer Währung identifiziert. Die Wertvorstellungen wurden hierbei vernachlässigt”, ergänzt Schriftsteller Petros Markaris, ebenfalls griechischer Herkunft und Stammgast in der belgischen Hauptstadt. “Die Fokussierung auf die Finanzen hat uns daran gehindert, die kulturelle Vielfalt zu verstehen. Wir haben den Traum vernachlässigt, der die einzig wahre treibende Kraft der Gemeinschaft ist.”

Aufgrund der Krise kommen heute noch persönliche Probleme hinzu. Dianas Familie in Athen lässt ihren Zorn auf die “Auftraggeber” aus Brüssel jetzt an ihr aus. Der Grund hierfür? Die guten Gehälter der europäischen Beamten – mindestens 3.500 Euro brutto bei Karrierebeginn, ca. 18.000 Euro für die höchsten Beamten zum Ende ihrer Laufbahn ­­­— die begrenzten, äußerst vorteilhaften Steuern (die wieder an den EU-Haushalt abgeführt werden), die skandalösen Vorruhestandsregelungen ab einem Alter von 50 Jahren (Vergütung von bis zu 8.000 Euro pro Monat) sowie das geschlossene System der den Kindern der EU-Beamten vorbehaltenen Europäischen Schulen in Brüssel und Luxemburg ... Sämtliche Vorteile einer über alle Maßen gegen die Launen der Märkte geschützten Elite.

Eine ängstliche Nomenklatura

Ein weiterer Sturm entfacht die Glut: derjenige von Populismus und Nationalismus. Belauscht, beneidet und von der Presse geschmäht werden die europäischen Beamten zu Sündenböcken, die nicht einmal auf ihre ehemaligen Kollegen zählen können, um sie zu verteidigen.

Darüber hinaus, so die beleidigten Eurokraten, verhält man sich auch in den Hauptstädten scheinheilig. So beschwert sich Paris über die Vergütung der Brüsseler Beamten, setzt sich jedoch mit aller Kraft dafür ein, dass der Sitz des Europaparlaments in Straßburg bleibt. Luxemburg verteidigt eifersüchtig seinen Europäischen Gerichtshof, wo die Bezüge astronomische Höhen erreichen. Die Mitgliedsstaaten sind erpicht auf die Agenturen der Europäischen Union, deren Zahl seit 1992 von 2 auf 36 gestiegen ist.

“Mit der Krise stellt sich die grundlegende Frage nach unserer Legitimität”, gibt ein Angestellter der Kommission zu. “Viele unserer Kollegen sprechen nur noch mehrere Sprachen, haben aber ansonsten die europäische Realität völlig aus dem Blick verloren. Sie bilden keine Avantgarde mehr, die Risiken eingeht, sondern wie zur Zeit der Sowjetunion eine Nomenklatura, die Angst hat, ihre Privilegien zu verlieren.”

Stimmt das? Karel Schwarzenberg lächelt. Der tschechische Außenminister und Schweizer Staatsbürger war ein treuer Anhänger des großen Václav Havel. Er erinnert sich an das Entsetzen des zum Staatschef gewählten Dissidenten und Schriftstellers angesichts der unzähligen, ausdruckslosen Büros in Brüssel. Havel verteidigte mit viel Engagement das Europa der Ideen. “Wie soll eine Behörde attraktiv und ansprechend sein, vor allem, wenn sie mehrere Tausend Kilometer von Ihnen entfernt ist und nicht Ihre Sprache spricht?” fragt er.

Sind die Eurokraten Opfer der Unwägbarkeiten der Geschichte? “Diejenigen, die in den 1960er Jahren angefangen haben, standen im Dienst einer attraktiven jungen Frau mit Namen Europa”, lacht der urwüchsige Adelige. “Heute hat die Dame Falten und alle möglichen Wehwehchen. Genau wie wir hat sie ihre besten Jahre hinter sich.”

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