Nicht in der Schweiz. Wandteppich in einem Istanbuler Basar. Foto: Markb120/Flickr

Glaube, ein relativer Wert

Das Schweizer Referendum über Minarette hat die Debatte über die Stellung des Islam in Europa neu angefacht. Dem muslimischen Philosophen Tariq Ramadan, der immer wieder den positiven Beitrag der Muslime für die Kultur des alten Kontinents betont, antwortet der Journalist Arcadi Espada, dass die Religion keine Frage von moralischer Überlegenheit ist.

Veröffentlicht am 2 Dezember 2009 um 17:18
Nicht in der Schweiz. Wandteppich in einem Istanbuler Basar. Foto: Markb120/Flickr

Ich verstehe (mehr oder weniger) Tariq Ramadan, der in der gestrigen Ausgabe [der Welt] behauptet, "dass es dem Normalbürger schwer fällt, die neue muslimische Präsenz positiv zu beurteilen". Für Herrn Ramadan liegt diese Schwierigkeit in dem begründet, was er unangenehme "Kontroversen" über den Islam nennt. Und der Philosoph zitiert einige davon: "Gewalt, Extremismus, Meinungsfreiheit, Geschlechterdiskriminierung, Zwangsehe".

Aber Tariq Ramadan muss zugeben, dass es hier um Elemente von Freiheit und Leben geht, es sich von daher keineswegs um eine belanglose Debatte handelt, und dass die von ihm zitierten Kontroversen beide direkt betreffen. Daher ist es nicht so absurd, dass die europäische Öffentlichkeit den Muslimen misstraut. All diese unangenehmen Dinge geschehen im Namen Allahs, selbst wenn ich nicht daran zweifle, dass viele gute Dinge in seinem Namen vollbracht werden könnten.

Trotzdem liegt dort weder der Kern der Debatte, noch der Grund der europäischen Meinungsverschiedenheiten oder gar der Verachtung, die Herr Ramadan zu erkennen glaubt. Aus meiner Sicht als Europäer würde ich ihn ehrlich gesagt gerne fragen, warum die Muslime ein positiver Faktor seien. Ein Muslim definiert sich über seinen Glauben, und zwar nur über ihn. Warum sollte der europäische Laizismus die Präsenz desjenigen, der sich nur über den Glauben definiert, als "positiv" ansehen?

Europäer sehen in Kirchen ein Kulturgut, nicht in Minaretten

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Würden wir es zulassen, dass jemand an einem öffentlichen Ort verkündet: "Ich bin katholisch, und das ist ein positiver Faktor"? Einer der wichtigsten, schwer erkämpften Werte Europas ist es, dass die Religion nicht die Tore des moralischen Paradieses öffnet. Die Religion ist nur ein Element, was sich diskutieren lässt. Ich kann weit über jegliche zweideutige Verallgemeinerung hinaus akzeptieren, dass Tariq Ramadan die arabische Präsenz als positiv bezeichnet, so als wenn er das gleiche über die chinesische Präsenz sagen würde. Aber ich kann nicht nachvollziehen, was an der Einführung von religiösen Verhaltensregeln positiv sein soll.

Es ist wahrscheinlich, dass die Schweizer Ablehnung der Minarette das Resultat von Rassismus und Intoleranz ist, wie einige vermuten. Vielleicht gibt es aber auch einen subtileren und delikateren Grund, der in Betracht gezogen werden sollte. Heute betrachten viele Europäer die alten christlichen Kirchen aus einem vom Glauben losgelösten Blickwinkel. Sie sehen sie als das, was sie auch sind, nämlich als kulturelle Gebäude. Das ist bei den Minaretten schon schwieriger, genauso wie bei allen architektonischen Spuren des Islam in Spanien. Bei den alten und neuen Minaretten dominiert herrisch die Religion – ein an sich negativer Faktor für Europa.

DEBATTE

Identitätsverlust und Angst vor dem Islam

"Noch vor nicht allzu langer Zeit glaubten viele Europäer an ihre Könige und Königinnen, schwenkten Fahnen, sangen Nationalhymnen und lernten die Heldenepen ihrer Geschichte auswendig. Ihr Land war ihr Zuhause. Die ''Identität wurde noch nicht als problematisch angesehen", bekräftigt der Schriftsteller und Journalist Ian Buruma im Corriere della Sera. "Die meisten von uns leben heute in einer säkularisierten, freien, desillusionierten Welt. Die Europäer sind freier als sie es je waren; die Priester sagen uns nicht mehr, was wir zu tun oder zu denken haben. Aber diese Freiheit hat ihren Preis. Die Befreiung vom Glauben hat nicht immer nur Glück gebracht, sondern oft Verwirrung, Angst und Ablehnung nach sich gezogen. Die Muslime werden beneidet, weil sie noch einen Glauben haben, weil sie wissen, wer sie sind und weil sie Werte haben, für die es sich lohnt, zu sterben", zumindest nach Auffassung der meisten Europäer. "Die hohen Minarette und die verschleierten Gesichter stellen eine Gefahr dar, denn sie streuen Salz in die Wunden derer, die unter dem Verlust ihres Glaubens leiden." Es bleibt zu hoffen, dass "die liberalen Demokratien diese Phase des Unwohlseins überwinden, dass sie dem demagogischen Druck standhalten und Gewaltausbrüche vermeiden können. Es wäre besser, wenn es weniger Referenden gäbe, da sie, im Gegensatz zu dem, was man gern denkt, die Demokratie schwächen. Sie zwingt die Politiker, auf die tiefsitzenden Gefühle der aufgebrachten Menschen einzugehen, anstatt vernünftig zu regieren".

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