Öffentliches Gebäude in Villeneuve-lez-Avignon, Frankreich (See Wah Cheng)

Die Wirren der nationalen Identität

Die von der französischen Regierung initiierte und zeitgleich mit dem Minarettverbot in der Schweiz ablaufende Debatte über das, was denn eine Nation ausmacht, ruft zahlreiche kontroverse Reaktionen hervor. Denn in Europa tendieren die Gesellschaften dazu, sich schnell gegen die Einwanderer zu stellen, bemerkt die Presse.

Veröffentlicht am 11 Dezember 2009 um 15:48
Öffentliches Gebäude in Villeneuve-lez-Avignon, Frankreich (See Wah Cheng)

Eine von Präsident Nicolas Sarkozy gewünschte Debatte über die nationale Identitätbewegt Frankreich und wirft zahlreiche Fragen auf. Zeugt sie von einer engstirnigen Auffassung der Immigration? Muss sie mit Themen in Verbindung gebracht werden, die mit dem Islam zusammenhängen? Kann ihre politische Instrumentalisierung vermieden werden? In einem am 8. Dezember in Le Monde veröffentlichten Artikel wollte der französische Präsident den Gegenstand der Diskussion klarstellen. "Die nationale Identität ist das Mittel gegen den Tribalismus und den Kommunitarismus", schreibt er. "Deshalb strebte ich eine große Debatte über die nationale Identität an. Diese unbestimmte Bedrohung, die so viele Menschen in unseren alten europäischen Nationen als Belastung ihrer Identität verspüren – ob zu Recht oder zu Unrecht –, darüber müssen wir alle gemeinsam reden, damit dieses dumpfe Gefühl vor lauter Runterschlucken nicht letztendlich einen schrecklichen Groll schürt."

Viele Beobachter betrachten diese nur ein paar Monate vor den Regionalwahlen organisierte Debatte über die nationale Identität als ein Mittel, die Wähler der extremen Rechten anzuziehen. In Libération klagen Muslime über unglückliche Assoziationen und über die Stigmatisierung der Muslime in Frankreich. In Le Monde meint die Soziologin Claudine Attias-Donfut, dass "der Beginn einer derartigen Debatte voraussetzt, dass tatsächlich eine Identitätskrise durchlebt wird, was meines Erachtens nicht der Fall ist. [...] Wenn man zu sehr auf den Schwierigkeiten der Immigranten herumreitet, sei es um sie zu belasten oder sie in eine Opferrolle zu drängen, verschleiert man die eigentlich ganz banale Integration, die für die überwiegende Mehrheit von ihnen die Realität darstellt."

Doch "soll man nun ablehnen, dass sich das Thema Immigration offensichtlich in jede Diskussion über die Identität einschaltet", fragt sich Politikwissenschaftler Alain Duhamelin derselben Zeitung. "Wie wäre das möglich, wenn doch die Immigration seit jeher zur französischen Identitätsgeschichte gehört. Wie könnte man jegliche Realität leugnen und über die neue französische Identität reflektieren, ohne den Fortbestand und die spezifische Besonderheit der Immigration mit einzubeziehen? Frankreich ist ein Land mit historischem, praktisch ununterbrochenenem Immigrationshintergrund, wodurch es sich sehr von den meisten seiner Nachbarn unterscheidet, ob Italien oder Spanien, Portugal oder Belgien, Deutschland oder Großbritannien usw."

Identität und Ausgrenzung

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Das Problem besteht darin, dass "der Islam in vieler Hinsicht zum Seismograph für die europäischen Fragen zur Identität geworden ist", unterstreicht Jean-Paul Willaime in Le Monde. Der Leiter des europäischen Instituts für Religionswissenschaften erinnert daran, dass der europäische Islam eine minderheitliche Erscheinung bleibt, und betont das "enorme Missverhältnis zwischen dem demographischen Gewicht der muslimischen Bevölkerung Europas und der Aufmerksamkeit bzw. der Befürchtungen, die sie auslöst". Dies sei darauf zurückzuführen, dass "sich die europäischen Gesellschaften, so säkularisiert sie auch sein mögen, noch nicht ganz von einer territorial bedingten Vorstellung der religiösen Zugehörigkeit gelöst haben, und jedes einzelne nationale Bewusstsein, wie auch das europäische Bewusstsein, in religiöser Hinsicht noch nicht ganz neutral ist."

Die nationalen Identitätskrisen, die in vielen westlichen Ländern festzustellen sind, verbergen in Wirklichkeit eine tiefere Krise, die "Identitätskrise Europas", meint hingegen der Adevărul. Für die rumänische Tageszeitung zeugen "die Einführung der Geschichtsprüfungen für Immigranten" in Großbritannien, der Gedanke einer "Staatsbürgerschaft mit Anforderungen", d.h. ein Punktesystem in Italien oder eine Volksbefragung über den Minarettbau in der Schweiz, von diesem Phänomen, das sich durch "die Entdeckung paralleler Gesellschaften", in welchen die Immigranten leben, erklärt.

Doch selbst wenn "ihre Definition von Natur aus ein Ausschließungsprozess ist", sei die Identität "ein unverzichtbarer Faktor", findet der Politologe Giovanni Sartori in El País. "Sie zu verwerfen wäre ein schwerer Fehler, weil Gesellschaften ohne ein klares, festes soziales Geflecht [tejidos conectivos] nicht funktionieren können und weil Bürger und Individuen ohne sie zu frei schwebenden Atomen würden." Leider, so Sartori weiter, stellten sich die westlichen Demokratien "den Problemen, wenn sie bereits explodiert sind". Und was die Integration der isolierten Gemeinschaften innerhalb unserer Gesellschaften betreffe, so gebe es "keine andere Alternative als diese Überlegungen über die ethischen und politischen Werte, auf welchen wir die Integration errichten wollen", schließt er.

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