Italiens Mario Monti, Griechenlands Lukas Papademos, Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Nicolas Sarkozy und EZB-Chef Mario Draghi.

Europas Abschied von der Solidarität

Die Solidarität, die immer im Kern des europäischen Projekts stand, beruht heute auf nüchternem Eigeninteresse. Will die EU die aktuelle Krise überwinden, muss sie diesen einfachen Grundsatz wieder neu erlernen.

Veröffentlicht am 24 Februar 2012 um 16:38
Italiens Mario Monti, Griechenlands Lukas Papademos, Kanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Nicolas Sarkozy und EZB-Chef Mario Draghi.

Manche Worte gehören den Europäern des Kontinents. Nicht viele Briten oder Amerikaner nehmen den Ausdruck “Solidarität” in den Mund. Er fällt dem (in angelsächsischen Augen) aufgeweichten Konsensverhalten des Kapitalismus der sozialen Marktwirtschaft und den Propheten der europäischen Einheit zu. Doch vor kurzem hat sich die Solidarität aufgelöst. Das erklärt, warum der Euro – und mit ihm die EU – in solch großen Schwierigkeiten steckt.

Eine neue Woche, ein neues Pflästerchen. Mit dem Abkommen zur Unterstützung Griechenlands wurde wieder ein bisschen Zeit gewonnen. Das Wichtige – so will man uns zumindest glauben lassen – ist, dass die Wunde verödet wurde. Wieder einmal. Dabei sollte es für alle offensichtlich sein, dass die neueste Rettung nur ein Nebenschauplatz im Gesamtbild ist.

Soll Griechenland einen katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch vermeiden, sind zwei Dinge nötig. Und dies ganz gleich, ob das Land im Euro bleibt oder austritt. Das erste ist ausreichend politische Entschlossenheit innerhalb Griechenlands, um den Staat und die Wirtschaft radikal zu reformieren, das zweite ist die Bereitschaft der anderen Europäer, für die Unterlassungen und die Betrügereien vergangener griechischer Regierungen eine beträchtliche Rechnung zu bezahlen.

Die relevante Frage ist, ob so eine Abmachung überhaupt möglich ist. Die Anzeichen sind nicht gerade vielversprechend. Hinter den Beschimpfungen, die heute die Beziehungen Griechenlands zu seinen Partnern in der Eurozone abstecken, liegt ein völliger Vertrauensbruch. Viele Europäer – und damit sind nicht nur die Deutschen gemeint – glauben nicht daran, dass die Politiker in Athen ihre Versprechungen halten werden. Viele Griechen wiederum sehen die drakonischen Sparmaßnahmen, die als Preis für einen Schuldenerlass verlangt werden, als Strafe und nicht als Sanierung an. Ein fairer Beobachter würde wahrscheinlich sagen, dass an beiden Seiten etwas dran ist.

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Warum Griechenland keine Ausnahme ist

Einerseits kann Griechenland als Ausnahme angesehen werden. Es ist ein kleines Land, und es unterscheidet sich von den anderen. Die anderen Randstaaten der Eurozone haben mehr oder weniger die Gelegenheit ergriffen, die ihnen die EU-Mitgliedschaft bot, um moderne europäische Staaten zu werden.

Irland blühte – trotz seiner aktuellen Schwierigkeiten – als selbstbewusste Nation auf, frei von der historischen Obsession mit Großbritannien. Spanien eignete sich mit Enthusiasmus die Modernität an. Doch Griechenlands Politiker machten sich nie wirklich die Mühe. Aus Athens Sicht war die EU eher eine Bargeldquelle als eine politische Inspiration.

Portugal modernisierte sich nur langsam. Seine Wirtschaft steckt, ähnlich wie die griechische, in großer Bedrängnis. Doch seine Politiker sind nachweislich darauf bedacht, aufzuholen. Somit wurde das Vertrauenskapital nicht angezapft. Politische Entscheidungsträger in Brüssel und Berlin erklären, dass sie Griechenland und Portugal in ganz verschiedene Kategorien einordnen.

Diese Grenze zu ziehen ist nicht so einfach wie es die Politiker und Funktionäre gerne hätten. Der Grund, dass Griechenland – das ja schließlich nur für ein paar wenige Prozentpunkte in der Produktionsleistung der Eurozone steht – eine solche Bedeutung angenommen hat, lieg darin, dass die politischen Entscheidungsträger ihm erlaubt haben, ein größeres Statement über die Zukunft der Eurozone abzugeben. Ansteckung ist kein wirtschaftlicher Fakt, sondern ein Produkt der Politik.

Hätte man die Märkte davon überzeugt, dass Griechenland wirklich eine Ausnahme ist, dann hätte es schon vor einiger Zeit in Quarantäne gestellt werden können. Stattdessen wird es nun als Test für die breitere politische Absicht angesehen – als Test für die Solidarität der Eurozone, wenn man so will.

Euro ist Allianz nationaler Interessen

Solidarität gibt es, wie eine erkenntnisreiche Untersuchung des in Pariser Think-Tanks Notre Europe kürzlich beobachtete, in zwei verschiedenen Ausgaben. Einerseits die einfache transaktionelle Abmachung – die gemeinsame Absicherung gegen die Eventualität dieser oder jener Notlage – und andererseits das aufgeklärte Eigeninteresse, das Regierungen dazu bringt, nationale Ziele in einer geteilten, kontinuierlichen Integrationsstrategie zu identifizieren.

Die Europäische Union baute auf der zweiten Variante auf. Das war vor rund 60 Jahren relativ einfach. Die Grauen von zwei Weltkriegen, die gemeinsame Bedrohung durch die Sowjetunion und die Anstöße der USA verliehen dem, was die Gründerväter den europäischen Aufbauprozess nannten, eine unwiderstehliche Logik.

Solidarität war keine rührselige Anschauung föderalistischer Träumer. Sie war ein Teil des nüchternen Kalküls der Interessen. Sie ermöglichte es Frankreich, politische Führerschaft zu beanspruchen, und Deutschland, seine Wirtschaft wieder aufzubauen und die Aussicht auf eine Wiedervereinigung aufrechtzuerhalten, während Italien Modernität anstreben und kleinere Staaten sich eine Stimme in den Angelegenheiten des Kontinents sichern konnten.

Gewiss, Solidarität konnte auch einen hochtrabenden Altruismus ansprechen, bei dem es den Menschen ganz warm ums Herz wurde, doch im Grunde ging es nur um das eigene Interesse.

Die Einheitswährung war der ultimative Ausdruck dieser Allianz nationaler und gegenseitiger Interessen – der Glaube, dass die wirtschaftliche und politische Zukunft ihrer Mitglieder so untrennbar miteinander verflochten waren, dass eine beispiellose Vereinigung der Souveränität den ganzen Aufwand wert war.

Eine andere Solidarität

Das Projekt hatte das große Pech, dass sein Start genau dann stattfand, als die meisten der anderen Solidaritätsimpulse – die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die Existenzbedrohung durch den Kommunismus, ein geteiltes Deutschland – bereits verblassten.

Es gibt immer noch eine Menge Gründe, warum die europäischen Staaten besser daran tun, zusammenzuarbeiten. Der wichtigste davon ist das Verlangen nach einer Stimme in der Welt, die zunehmend anderen gehört. Deutschland, Frankreich, Großbritannien – sie alle sind zu klein für diese Welt.

Doch, so wichtig sie auch sind, klingt keine der gemeinsamen Ambitionen – die Gestaltung von Handelsregeln, die Bekämpfung des Klimawandels, die Sicherung von Energievorräten oder die Förderung von Demokratie und Stabilität – so dringend oder so zwingend wie die Erhaltung des Friedens in Europa.

Solidarität war zwar in der Eurokrise offensichtlich, doch nur die transaktionelle, die Nullsummenvariante: Gläubigerstaaten werden dieses nur tun, wenn die Schuldnerländer jenes tun. Man könnte sagen, das sei besser als gar nichts. Bis jetzt hat es die ganze Sache auch am Laufen gehalten.

Doch es wird nie richtig erklären, warum die Steuerzahler im Norden die Schulden des Südens bezahlen oder warum die Menschen im Süden schmerzhafte Reformen als Chance statt als Strafe ansehen sollten. Dazu braucht es die andere Art der Solidarität.

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