Im "Kop", die Fantribühne des FC Liverpool, 2005 (AFP)

Die Stimmen des Nordens

Liverpool, Manchester, Leeds… im Norden Großbritanniens spricht man in jeder Stadt ein anderes Englisch. Heute ist man wieder stolz auf die früher verpönten lokalen Dialekte. Selbst die stets sprachlich korrekte BBC stellt sie wieder ins Rampenlicht.

Veröffentlicht am 5 Januar 2010 um 17:58
Im "Kop", die Fantribühne des FC Liverpool, 2005 (AFP)

Der Mann hat eine Zigarette hinterm Ohr, dreht sich dabei eine zweite und redet wie ein Wasserfall. Sechzig Kippen pro Tag. Das gibt eine Rauheisenstimme! Kein Wunder, dass Ken Loach den quasi unbekannten Schauspieler Steve Evets für die Hauptrolle in seinem Film über die Fußballfans von Manchester Looking for Eric ausgewählt hat. Für die Rolle des Prolls aus Manchester wollte er einen Proll aus Manchester. Das kann man nicht spielen. Was ist dann an den Stimmen aus Manchester so besonders? Genau da wird die Sache heikel. Steve Evets präzisiert, dass er nicht aus Manchester stamme, sondern aus Salford, am gegenüberliegenden Ufer des Irvell, "dem bleifarbenen Fluß.“ Eine knallharte Arbeitervorstadt, vor der die angeberische Nachbarstadt auf die Knie geht. Mit dem Bus ist man in fünf Minuten dort, doch Steve Evets schwört, dass es eine andere Welt sei. Man spricht dort anders als in Manchester, in Bolton oder Wigan, und natürlich völlig anders als in Leeds oder Liverpool.

Die BBC strahlt ein Programm, Voices, aus, das es einem ermöglicht, sich im Sprachdickicht der Dialekte zurechtzufinden. Dort lernt man "Manchester-Englisch in zehn Minuten“ und diskutiert, wie die Menschen das Wort "Mama“ in einem Umkreis von zehn Kilometern aussprechen ("mum“ oder "mom“) "Man ist stolz auf seine Sprache. Sie ist eine Identität. Sie ist der Spiegel einer Stadt, eines Milieus: der Docker, der Stahlarbeiter, der Wollspinnereien Manchesters...“ "Seit circa zehn Jahren hat sich mein Job gewandelt“, sagt Kahleen Crawford, die schottische Casting-Direktorin von Looking for Eric. "Früher sollten die Schauspieler akzentfrei sprechen, wenn sie von einem Produzenten aus London angerufen wurden. Heute ist der Akzent ihr bester Verbündeter.“ Um unser Gehör zu schulen, rät uns David Peace, der Autor des Krimis Red Riding Quartett, auf den Spuren seiner Teenagerzeit zu wandeln, mit dem Bus von Huddersfield nach Leeds zu fahren, um so zu hören, wie sich die Ausdrücke und der Ton von Bushaltestelle zu Bushaltestelle verändern.

Seit seiner Teenie-Zeit, als man zwischen Leeds und Huddersfield sich in einem Sprachlabyrinth befand, haben sich die Dinge aber gewandelt. Die Stadt hat sich modernisiert. In den früheren Markthallen sind heute Luxusboutiquen untergebracht. Man hört immer mehr ausländische Akzente, aus Asien oder Osteuropa. Die Sprachen vermengen sich. Doch hat der regionale Dialekt ein dickes Fell. Bürger aus Leeds waren ganz aufgebracht, als die Ansagen der Buslinie 28 ihrer Meinung nach in einem zu sauberen Shakespeare-Englisch gemacht wurden. "Seitdem Schottland und Wales ein eigenes Parlament haben“, sagt der Schriftsteller, „beharren die Menschen noch mehr auf ihre Herkunft. Sie hängen an der Besonderheit ihres Sprechens. Eine Mode, die eine Gruppe wie Oasis bis ins Absurde getrieben hat. Der lokale Sprachgebrauch ist einerseits kreativ und fröhlich, doch oftmals auch eine Art, sich abzuschotten. In welche Richtung das sich entwickeln wird, kann man nicht sagen. Wir sind mitten im Umbruch.“Der Dialekt des Nordens ist keine Schriftsprache. "Im Gegensatz zu einer intellektuellen Kultur“, sagt David Peace, "ist er physisch, man hat ihn in der Haut.“ Eine Kultur, die in vielerlei Formen zum Ausdruck kommt : im Film, in der Musik, auf der Straße oder im Fußballstadion, usw. Heute hört man die Akzente überall. Früher nirgends. Ende der fünfziger Jahre, bevor die Beatles als Liverpool-Jungs Karriere machten, versuchten die Sänger aus Nordengland ihren Akzent zu verbergen. "Um Lehrer zu werden, musste mein Vater Sprecherziehungskurse in London belegen“, erzählt David Peace. "Das war 1957. Es gab nur ein Englisch. Das Englisch der Oberschicht und der BBC mit dem Prädikat ‚Received Pronunciation’.

In den sechziger Jahren wurde mit Rock, Film und Fußball alles umgewälzt. Liverpool fühlte sich wie beflügelt. "Eine tolle Zeit“, schwärmt der Professor und Radiojournalist Rogan Taylor, der sein Leben im Kop (der Fankurve) des Liverpooler Fußballstadions verbracht hat. Bill Shankly, der Trainer der Reds, versprach uns das Blaue vom Himmel und die Ausgeflipptheit der Beatles fand sich auch im Stadion wieder. Die Menge sang für die Spieler: “We love you yeah yeah yeah !” oder “We all live in a red and white Kop” [auf der Melodie von Yellow Submarine*].

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Fans von Liverpool bis Morrissey, von den Beatles bis zu den Figuren von Ken Loach: all jene, die von der Größe und den Enttäuschungen irgendeines kleinen Arbeiterviertels erzählen, sind über alle Grenzen hinaus zu Ikonen einer universellen Romantik geworden. Genau wie im Song des Kop von Liverpool: *"You’ll never walk alone."**

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