Als wir Könige waren. Der britische Premier Tony Blair (l) und sein niederländischer Amtskollege Jan Peter Balkenende im Jahr 2002. (AFP)

Was zählt die Wahrheit

Eine niederländischer Untersuchungskommission ist der Überzeugung, dass die USA den Irak "illegal" angegriffen haben, während der britische Chilcot-Untersuchungsausschuss versucht, über die Entscheidung Tony Blairs Aufschluss zu geben, mit der er sein Land in den Krieg führte. Unterdessen streiten die Politiker noch immer jegliche Verantwortung an der Katastrophe ab, bedauert die Presse beider Länder.

Veröffentlicht am 13 Januar 2010 um 16:59
Als wir Könige waren. Der britische Premier Tony Blair (l) und sein niederländischer Amtskollege Jan Peter Balkenende im Jahr 2002. (AFP)

Als "scham- und reuelos und noch immer Lügen verbreitend" beschreibt ihn die Daily Mail. Im Guardian nennt Simon Hoggart ihn einen "Erzfeind und Manipulator". Und im Independent bezeichnet Matthew Norman ihn als "psychotischen Propagandisten". Und dies sind nur ein paar Beispiele für die liebevollen Namen, welche die britische Presse Tony Blairs ehemaligem Direktor für Kommunikation - Alastair Campbell – gegeben hat. Campbell musste am 12. Januar vor dem Chilcot-Untersuchungsausschuss aussagen, der mit der Klärung der folgenden Frage beauftragt ist: Warum entschied sich Großbritannien 2003 dafür, sich am US-Angriff auf den Irak zu beteiligen? So "kann er sich wieder einmal im Rampenlicht sonnen, welches er so sehr liebt", lautet der Kommentar des Daily Telegraph. "Wieder mal packte Alastair Campbell seine bereits überall bekannten Argumente aus, um Tony Blairs Entscheidung, das Land in den Krieg zu führen, zu rechtfertigen": "Tony Blair handelte jederzeit in gutem Glauben an die überzeugenden Argumente, die er zur Verfügung hatte".

Welche Wahrheit versteckt sich aber hinter diesen "überzeugenden Argumenten", auf die sich Mister Campbell hier beruft? Ibrahim al-Marashi erinnert uns in der Times daran, dass ein großer Teil der "Manipualtion der britischen Öffentlichkeit" schon 2002 stattfand, als er einen Artikel in der Zeitschrift The Middle East Review of International Affairs veröffentlichte. Die britische Regierung "nahm mir all meine Informationen, fügte Seiten hinzu, die einen militärischen Angriff gegen den Irak rechtfertigten, und veränderte Schlüsselbegriffe, die zu verstehen geben sollten, dass der Irak al-Qaida unterstützt hatte". Der Bericht, den man nun auch die "gefälschte Akte" nennt, behauptete, "dass Saddam Hussein Massenvernichtungswaffen besäße und eine Bedrohung darstelle". An vier Stellen fügte Campbell ein, dass Saddams nicht-existente Massenvernichtungswaffen den britischen Boden auf Zypern innerhalb von 45 Minuten erreichen könnten. Simon Hoggart erinnert die Leser daran, dass dies anschließend zu Schlagzeilen führte wie beispielsweise: "Briten nur 45 Minuten vom Untergang entfernt". Gestern versicherte Mister Campbell: "Ich stehe zu jedem einzelnen Wort dieses Dokumentes". "Ich verteidige jeden einzelnen Schritt unseres Vorgehens." Angesichts solch endloser Hinhaltetaktiken fragt sich der Independent irritiert, ob Mister Campbells Aussagen uns eigentlich irgendetwas vermitteln, von dem wir vorher noch nichts wussten. Die Antwortet lautet: "Nicht wirklich viel. Wir haben ein bisschen mehr darüber erfahren, was Blair so gedacht und sein Verhalten bestimmt hat, als er die Invasion vorbereitete. Laut Campbell soll der britische Premier wohl Briefe an Präsident Bush geschickt haben, in denen er die Strategie zur Entwaffnung des Irak beschrieb. Im Wesentlichen gab er ihm zu verstehen, dass Großbritannien – wenn es keinen diplomatischen Weg gibt und nur eine militärische Lösung in Frage kommt – ihm beistehe".

"Campbell hat den Boden für Tony Blair geebnet". So urteilt die Londoner Tageszeitung über die Aussagen und spielt auf das mit Spannung erwartete Erscheinen des ehemaligen Premiers an, der Ende des Monats vor der Untersuchungskommission erscheinen soll. Jedoch ist einer der aktuellen europäischen Spitzenpolitiker der erste in der Schusslinie: Der niederländische Regierungschef Jan Peter Balkenende. Am 12. Januar erklärte die regierungsunabhängige Davids-Kommission die niederländische Unterstützung der Invasion (, zu der logistische Hilfe ebenso gehörte wie die Erlaubnis für US-Truppen, niederländische Flughäfen für Zwischenlandungen zu verwenden) für illegal, weil keine UN-Resolution diese rechtgefertigte. Der Bericht übt scharfe Kritik und beschreibt das Verhalten des Außenministeriums als "herrschsüchtig und – um noch genauer zu sein – eigensinnig". Besonders kritisch betrachtet das NRC Handelsblad Balkenende: Das Blatt wirft ihm mangelndes Führungsverhalten vor, und beschuldigt ihn, das Parlament damals nur dürftig informiert zu haben. Für NRC Handelsblad "schlittert" Balkenende damit "auf politischem Glatteis" und "sollte sich fragen, ob seine Position vertretbar ist". Für die Rotterdamer Tageszeitung gibt es immerhin eine "positive Konsequenz für Balkenende": "Die Bestätigung, dass die Niederlande keine militärische Rolle gespielt haben und dass [der damalige Außenminister] Jaap De Hoop Scheffer nicht aufgrund [dieser] Unterstützung zum NATO Generalsekretär ernannt wurde".

Wie andere – größere und weniger große – Akteure der internationalen Bühne verhält sich der niederländische Regierungschef ebenso wie Campbell. Auch wenn ein tiefer Abgrund zwischen den Gründen für den Angriff und seiner schrecklichen Wirklichkeit klafft. Für die gewöhnlich der christdemokratischen Partei des Regierungschefsnahestehende Trouw sollte man Balkenende für seinen "Kampfgeist" loben: Er habe sich dafür entschieden, die Vorwürfe des Berichtes "ganz einfach vom Tisch zu fegen". Dennoch habe er zu jener Zeit "nicht ausreichend nachgedacht". "Gestern erklärte Balkenende, dass es damals nicht nur juristische Argumente gegeben habe. Auch die internationale Politik galt es zu berücksichtigen", schreibt die Amsterdamer Tageszeitung. Dieses Argument "hätte wesentlich glaubwürdiger sein können, wenn er und De Hoop Scheffer nicht ständig juristische Argumente vorgebracht hätten, um ihr Handeln zu rechtfertigen".

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