EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton bei einer Pressekonferenz in Jerusalem, 2010.

Lady Ashton trifft einen empfindlichen Nerv

Die Parallelen, die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton am Tag nach der Schießerei in Toulouse zwischen den von Mohamed Merah erschossenen jüdischen Schülern und den jungen Kriegsopfern in Syrien, Gaza oder Sderot zog, löste eine Welle der Empörung in Israel aus. Doch das Land sollte aufhören, die Rolle des ewigen Opfers zu spielen, findet Redakteur Gideon Levy.

Veröffentlicht am 26 März 2012 um 15:03
EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton bei einer Pressekonferenz in Jerusalem, 2010.

Nicht genug des Horrors in Toulouse, nicht genug des Verdachts, al-Qaida habe mit dem Anschlag zu tun, nicht genug der ständigen Kritik Israels. Nun haben wir noch einen neuen Fantasiefeind erfunden: Catherine Ashton, die Leiterin der EU-Außenpolitik.

Ashton hat ein paar geschmacklose Bemerkungen über das grausame Schicksal getöteter Kinder gemacht und dabei unabsichtlich die Unfallopfer in Belgien, die Kriegsopfer in Syrien, Gaza und Sderot und die Opfer von Hassverbrechen in Frankreich durcheinander gebracht. Und umwendend, augenblicklich, hat Israel einen internationalen Skandal entfacht – trotz des beeindruckenden Beistands Frankreichs an der Seite der jüdischen Gemeinschaft, der französische Staatspräsident allen voran.

Ashton ist eine nicht ausnehmend bedeutende, aber anscheinend wohlmeinende Politikerin und hat sich versprochen. Wir sehen ein, dass sie keine bösen Absichten hegte und ihre Aussage ganz bestimmt nicht gegen Israel gerichtet war. Der volle Wortlaut der Rede beweist das. Ashton hat das Schicksal von grundlos getöteten Kindern betrauert, so wie Politiker das eben gerne tun. Doch der donnernde Angriff aus Jerusalem (und Tel Aviv), orchestriert vom Ministerpräsidenten und vom Außenminister und mit der Rückendeckung von Journalisten und Experten war falsch und unnötig, und dies nicht minder als Ashtons Bemerkungen.

Niemand hätte Ashton heftig angegriffen, wäre sie eine Vertreterin der USA gewesen. Diese Attacke gegen Ashton und andere ihresgleichen ist suspekt, sie war wahrscheinlich nicht aufrichtig. Vielleicht nutzen wir wieder einmal zynischerweise den Fauxpas eines Politikers, um immer mehr Schuldgefühle gegenüber Israel zu erzwingen, den Politikern weltweit immer mehr Angst einzuflößen und immer mehr wertlosen politischen Reibach zu machen.

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Israel macht Jagd auf solche Bemerkungen als wäre es die Anti-Defamation-League selbst. Die langfristigen Auswirkungen sind gefährlich. Ashton war nie als Feindin Israels betrachtet worden, sondern galt eher als eine typische europäische Politikerin, die der Meinung ist, man solle der Besetzung durch Israel ein Ende setzen. Sie wird ihre Zunge in Zukunft vielleicht hüten, doch sie wird Israel auch die Demütigung nachtragen. Das ist nicht gut für Israel.

Israel darf nie mit etwas anderem verglichen werden – weder mit der Apartheid noch mit anderen Freiheitsunterdrückern auf der Welt, anderen Besatzungsregimes oder anderen Kolonialisten. Wir sind immer etwas anderes. Die Kinder von Sderot dürfen nicht mit den Kindern von Gaza verglichen werden, die Kinder von Toulouse nicht mit den Kindern, die anderswo in nationalistischen Verbrechen aus Hass abgeschlachtet werden.

Unsere Kinder sind anders, nicht nur für uns – denn das ist ja natürlich. Nein, sie müssen für die ganze Welt anders sein. Das ist unsere kompromisslose Forderung. Und der palästinensische Kampf darf auch nicht mit irgendeinem anderen Freiheitskampf anderswo auf der Welt verglichen werden. Jeder, der es wagt, Israel mit irgendetwas zu vergleichen, hat sein Schicksal besiegelt.

Der kleine Aufruhr um Ashton wird morgen vergessen sein. Israel wird einen anderen winzigen Sieg feiern, doch die Rückstände werden sich summieren.

Nicht Ashton hat den Verstand verloren, sondern Israel, das die Rolle der ewig verletzten Partei spielt und wieder einmal im rührseligen Licht steht. Und dies genau zu dem Zeitpunkt, als die Welt teilnahmsvoll auf die Opfer reagierte und Israel gegenüber bemerkenswert mitfühlend war.

Reaktion

Frau Ashtons Worte ein Spiegel von Europas Rückgratlosigkeit

Die Rede, in der Catherine Ashton den Mord an drei jüdischen Kindern in Toulouse am 19. März unter anderem mit dem Blutbad von Utøya in Norwegen und den jüngsten Todesfällen in Syrien, Gaza und Sderot verglich, löste in Israel empörte Reaktionen aus.

„Derart schändliche Vergleiche spiegeln ein unglaublich verzerrtes Wertesystem sowie eine völlige Blindheit gegenüber der Wirklichkeit der Welt und des Mittleren Ostens wider“, schreibt Ygal Walt in der konservativen Tageszeitung Yediot Aharonot.

Kein Wunder, dass die Hamas Ashton eiligst für ihre Aussage lobte und dadurch Europas moralische Verwirrung betonte. [...] Die peinliche „Klarstellung“ der Europäischen Union, die Ashtons Bemerkungen nicht leugnete, sondern nur behauptete, sie habe Toulouse nicht mit Gaza vergleichen wollen, ändert daran nichts. Wenn überhaupt, dann beweist sie nur Europas Mangel an Rückgrat und seine Tendenz, seine Position zu ändern und verschiedene Gruppen zu beschwichtigen, ohne einer glaubhaften, beständigen moralischen Richtschnur zu folgen.

Jetzt brauchen wir nur noch dabei zuzusehen, wie der „alte Kontinent“ zu einem neuen, düsteren Horizont verfällt. Einerseits wird erwartet, dass islamistische Tendenzen zunehmen, während andererseits radikale nationalistische Parteien stärker werden. Das Europa des späten 20. Jahrhunderts, das gelobt hatte, das Banner der Toleranz und des Liberalismus hochzuhalten, wird sich langsam in ein chaotisches, zorniges Gebiet verwandeln, in dem verschiedene Gruppen miteinander kämpfen und dabei echten moralischen Werten ausweichen. In jedem Fall ist keine Entschuldigung oder Klarstellung von Seiten Frau Ashtons nötig. Schließlich waren ihre Worte ein präziser Spiegel der Stimmung ihres verfallenen, im Sterben liegenden Kontinents.

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