Neapel. Ein zwölfjähriges Kind arbeitet in einer Autowerkstatt.

In Neapel gehen Kinder wieder arbeiten

Neapel gehört zu den ärmsten Städten Europas. Hier verlassen tausende Kinder die Schule, um ihren Eltern dabei zu helfen, über die Runden zu kommen. Sie leisten Schwarzarbeit oder werden von der Mafia für deren Drecksarbeit angeheuert. Die Krise hat dieses Phänomen noch verstärkt. Auszüge.

Veröffentlicht am 30 März 2012 um 15:29
Neapel. Ein zwölfjähriges Kind arbeitet in einer Autowerkstatt.

Es ist sieben Uhr morgens in San Lorenzo in der Innenstadt Neapels. Ein Kind plagt sich mit einer schweren Kiste voll Konserven durch die feuchten Straßen. Mit ausgewaschenem Trainingsanzug, die Kapuze über den Kopf gezogen, und abgetragenen Turnschuhen bekleidet beginnt der kleine Gennaro seinen Arbeitstag.

Keinen überrascht es, ihn sich so früh morgens abrackern zu sehen. Im September 2011 wurde Gennaro in einem Lebensmittelladen angestellt. Sechs Tage die Woche räumt er zehn Stunden am Tag Regale ein, entlädt Kisten und liefert Einkäufe im Viertel aus. Gennaro träumte davon, Informatiker zu werden. Jetzt ist er Ladenaushilfe wie die meisten arbeitenden Kinder in Neapel. Er arbeitet schwarz für weniger als einen Euro die Stunde und verdient maximal 50 Euro die Woche. Gennaro ist gerade 14 Jahre alt geworden.

Niemals hätte sich Gennaros Mutter Paola Rescigno träumen lassen, dass sie ihn eines Tages von der Schule nehmen würde. Seit 20 Jahren wohnte sie mit ihrem Mann in einer 35 Quadratmeter-Wohnung in einem Hinterhof des ärmsten Viertels der Innenstadt, San Lorenzo.

Dann starb der Vater unerwartet an Krebs. Seitdem lebt Paola Rescigno von Tricks. Sie hat ein Mini-Reinigungsunternehmen gegründet und teilt sich die Arbeit mit den anderen arbeitslosen Frauen des Viertels. Sie verdient 45 Cent die Stunde, 35 Euro pro Woche, weniger als ihr Sohn.

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38% der Schulabgänger sind keine 13 Jahre alt

Sie ist diejenige, die Gennaro jeden Tag bei Morgengrauen aufweckt, damit er rechtzeitig zum Lebensmittelladen kommt. Die kleinere Schwester ist sechs Jahre alt, daher musste sie eine Entscheidung fällen: „Ich habe nicht genug Geld, um die Schulbücher für beide zu zahlen. Ich musste mich für einen der beiden entscheiden." Auf dem Küchentisch liegt ein „Acht-Tage-Brot“, ein fader Roggenlaib von 3 kg, der lange frisch bleibt und nur fünf Euro kostet. Das Erfolgsprodukt der Hungerjahre der italienischen Nachkriegszeit.

In Neapel müssen tausende Kinder wie Gennaro arbeiten gehen. Aus einem alarmierenden Bericht des Rathauses vom Oktober 2011 geht hervor, dass es in Kampanien, der Region um Neapel, insgesamt 54 000 Kinder sind, die zwischen 2005 und 2009 das Schulsystem verlassen haben; 38 % von ihnen sind keine 13 Jahre alt.

„Diese Kinder arbeiten mit zehn Jahren schon zwölf Stunden am Tag“

Ladenaushilfe, Kellner, Lieferanten, Friseurlehrlinge, kleine Angestellte in der Lederwarenherstellung im Hinterland und den Lederwaren der großen Marken, „Männer für alles“ auf den Märkten – sie sind überall und arbeiten überaus sichtbar in aller Öffentlichkeit unter praktisch allgemeiner Gleichgültigkeit.

„Es stimmt schon, dass wir immer die ärmste Region Italiens waren. Aber so etwas hat man seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht mehr gesehen,“ erklärt Sergio d'Angelo, Assistent im Rathaus von Neapel. „Diese Kinder arbeiten mit zehn Jahren schon zwölf Stunden am Tag. Das ist eine wahre Absage an ihr Recht, kindgerecht aufzuwachsen." Ihre Eltern leben gesetzeswidrig. Die Sozialämter können ihre Kinder jederzeit in einer Pflegefamilie platzieren.

Italiens Krise hat den Weg bereitet. Seit 2008 haben aufeinanderfolgende Finanzgesetze drastische Wirtschaftspläne auferlegt. Kampanien hat im Juni 2010 das Äquivalent der Mindestsozialversicherung abgeschafft und somit 130 000 bisher berechtigte Familien in die Armut gestürzt.

Damals betrug das Durchschnittseinkommen in der Region 633 Euro pro Einwohner. Heute gibt die Hälfte der Einwohner an, dass sich ihre Situation verschlechtert hat. „Die Jugendlichen fangen alleine die Kosten der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit auf", beklagt Sergio d'Angelo.

Der Drogenhandel ist in vollem Gange

In Neapel haben die Kinder armer Familien keine andere Wahl als sich entweder an gute Schulnoten zu klammern oder schwarz arbeiten zu gehen. Als dritte Möglichkeit bietet sich die napolitanische Mafia Camorra an. Gegen diese brutale Wahl kämpft der 33-jährige Facherzieher Giovanni Savino an. Sein Gebiet ist eines der schlimmsten Viertel Neapels: Barra, ein wahrhafter Drogensupermarkt, eine finstere Zone, von heruntergekommen Wohnblöcken gespickt, die von der Camorra beherrscht werden.

Jede Woche geht Giovanni Savino zur Sekundarschule Rodino, die mitten in den Sozialwohnungsbauten liegt. Hier ist der Drogenhandel in vollem Gange und jedes zweite Kind ist mehr als hundert Tage im Jahr nicht in der Schule. Nach dem Gesetz müssten sie schon nach 60 Tagen Abwesenheit der Schule verwiesen werden. Die Schuldirektorin Annunziata Martire und der Erzieher kämpfen gegen die Zeit: Einmal die Woche übergibt sie ihm eine Liste der Schwänzer. Giovanni Savino hat zehn Tage Zeit, um eine Lösung zu finden, bevor das Sozialamt eingreift.

Meistens übernimmt er die Aufgabe, die Kinder als freie Anwärter für die Schulabschlussprüfung einzuschreiben, um zu verhindern, dass sie ihrer Familie entrissen und in eine Pflegefamilie gegeben werden. Die Rathausbeamten wagen es nicht mehr in die Nähe der Sozialwohnungsblöcke zu gehen und nur wenige Erzieher schaffen es wie Giovanni Savino, in das Viertel Barra hereinzukommen.Sein Verein heißt Il Tappeto di Iqbal, der „Teppich des Iqbal", nach einem pakistanischen Sklavenkind, das, nachdem es aus der Sklaverei freikam, gegen die Kindersklaverei ankämpfte und ermordet wurde.

Marco, mit zwölf Jahren kokainabhängig und Fachmann für Taschendiebstahl

Giovanni Savino ist ein Mann voller Wut, Wut gegen die Mafioso, gegen ein scheiterndes Bildungssystem und gegen den Staat „der seine Kinder im Stich lässt“. In Italien gibt es kein Amt für Sozialhilfe. Die Unterstützung, die die Jugendlichen und ihre Familien erfahren, hängt von der Tatkraft von 150 Vereinigungen ab, denen nur die Subventionen des Rathauses zur Verfügung stehen. Seit Beginn der Krise wurde der Sozialhilfefonds um 87 % gekürzt. Seit zwei Jahren erhalten die zwanzigtausend Erzieher Kampaniens kein Gehalt mehr und müssen sich verschulden... um zu arbeiten.

Dennoch hat Giovanni Savino es geschafft, dutzende von Kindern aus Barra der Gier skrupelloser Arbeitgeber oder Mafiaclans zu entreißen, die hierhin kommen, um ihre künftigen Soldaten anzuwerben.Carlo ist einer der ersten Überlebenden. Mit 13 Jahren erpresste das schon tätowierte Kind Schutzgelder, stahl und erstach auf Anfrage des Clans Aprea. Vier Jahre später ist Carlo zur rechten Hand von Giovanni Savino geworden. Er ist ihm gegenüber loyal und unglaublich dankbar: „Es reicht ihm nicht, dir zu helfen, einen Schulabschluss zu bekommen. Er gibt nicht nach und lässt dich nicht im Stich. Er hat mir das Leben gerettet." Nach Carlo kam Marco, der mit zwölf Jahren kokainabhängig und Fachmann für Taschendiebstahl war. Und der begabte Schüler Ciro, der Kellner wurde, um seine Familie aus den Klauen mafiöser Wucherer zu retten.

Über den letzten, den 11-jährigen Pasquale, sagt Giovanni Savino, dass er seine größte Herausforderung sei. Als er ihn vor neun Monaten unter seine Fittiche nahm, hatte Pasquale die Schule verlassen und nie genug zu essen. Um seiner Familie zu helfen, entlud der 1,30 Meter kleine Junge mit sommersprossigem Gesicht Kisten im Supermarkt. Nachts ging er auf den Mülldeponien oder in den Lagerhäusern von Trenitalia Kupfer stehlen. „Du nimmst den Draht, verbrennst ihn, etwa so, und dann schneidest du ihn, um ein Knäuel daraus zu machen", erzählt er angeberisch.

Dann füg er beunruhigt hinzu: „Sag aber auf keinen Fall meiner Mutter, dass ich ein Messer habe, ok?" In Barra kann man auf dem Schwarzmarkt aus einem Kilo Kupfer oder Aluminium 20 Euro schlagen. Der Handel ist in den Händen der Kinder. Wenn man ihn fragt, was er später werden will, verstummt Pasquale schlagartig. Dann weint er: „Ich werde machen, was ich kriege.“

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