Was bleibt, ist der Strudel

Nach dem Ende des Kommunismus haben sich Prag, Warschau, Budapest und Bratislava in der Visegrád-Gruppe zusammengeschlossen. In ihr soll der Geist, der sie im Mittelalter vereinte, wiederbelebt werden, um die westliche Integration zu fördern und politisches Gewicht zu gewinnen. Die Staatengruppe scheint aber heute eher getrennte Wege zu gehen.

Veröffentlicht am 4 April 2012 um 09:48

Ich habe lange darüber nachgedacht, was heute Tschechien, Polen, die Slowakei und Ungarn miteinander verbindet. Mir ist nur eine Idee gekommen: einige Blätterteigschichten, gefüllt mit Äpfeln, Zimt und Rosinen. Ein Geheimrezept der Großmütter in Prag, Bratislava, Krakau oder Pest. Nur wenige wüssten den Ort [Visegrád in Ungarn] auf einer Karte zu finden, in dem sich 1335 die Könige von Polen, Böhmen und Ungarn trafen.

Vor 21 Jahren wurde die Visegrád-Gruppe [deren Mitglieder Ungarn, Polen, die Tschechische Republik und die Slowakei sind] feierlich gegründet. Ihre Mitgliedsländer teilen eine gemeinsame Vergangenheit, eine westeuropäische Orientierung und das Bestreben nach einem Sicherheitsgefühl, das von der Zugehörigkeit zur NATO garantiert wird.

Osten und Westen wachsen zusammen

Auch wenn die vier Länder heute mit den westlichen Strukturen verwachsen sind, scheint es für sie immer schwieriger, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Zahlreiche internationale Unternehmen machen keinen Unterschied mehr zwischen Ost- und Westeuropa. So kann schon mal Prag von London abhängen oder Instanbul die Kontrolle über Budapest haben.

Die Banken haben sich für ihre Regionalsitze Wien ausgewählt. Polen stellt sich durch seine Größe und seinen Einfluss politisch mit Frankreich auf eine Stufe. Wir [Tschechen] liebäugeln eher mit England. Der [slowakische] Traum von einer „neuen Schweiz” scheint zerplatzt, denn in den tiefen Wäldern der Alpen stolpert man kaum über einen Gorilla [jüngster Politikskandal]. Und die momentanen Schwierigkeiten der ungarischen Wirtschaft stimmen Investoren im Hinblick auf die Finanzmärkte der Nachbarländer nicht besonders optimistisch.

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Strudel statt Schmelztiegel

Die mitteleuropäische Identität löst sich immer mehr im berüchtigten Schmelztiegel der globalisierten Kultur auf. Die Nostalgiker der Vergangenheit, der Zeit, in der deutsch die regionale Lingua Franca war, müssen heute feststellen, dass in den österreichischen Skistationen Ungarn und Slowaken „two small beers” bestellen. Die tschechischen Kinder verstehen kein slowakisch mehr, denn die Sprache ist aus den [tschechischen] Medien verschwunden. Und wann haben Sie [tschechische Leser] das letzte Mal einen polnischen oder ungarischen Film gesehen?

Ziel des Treffens der drei Könige in Visegrád 1335 war vor allem die Bildung einer antihabsburgischen Koalition. Die heutige, euroamerikanische Visegrád-Gruppe hat keinen gemeinsamen Feind. Keiner würde es merken, wenn sie leise von der Bildfläche verschwindet. Bleibt zu hoffen, dass wenigstens der Strudel dem Zahn der Zeit standhält. (mz)

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