Von Wahlen und Illusionen

Revolution, Protektionismus, Austritt aus dem Euro: Die Kampagne für die französischen Präsidentschaftswahlen, die am 22. April beginnen, ist von populären, aber realitätsfremden Ideen geprägt. Das Syndrom eines Landes, das sich nicht traut, sich selbst einer Gewissensprüfung zu unterziehen.

Veröffentlicht am 20 April 2012 um 15:52

Frankreich hat viele geografische und kulinarische Reize, aber die schlimmsten politischen Debatten des Westens. Die Präsidentschaftskampagne vor dem ersten Wahlgang hat deren Gehaltlosigkeit bewiesen.

Eine Wahl muss im Prinzip Schwierigkeiten darlegen, Lösungen vorschlagen und Auftrieb geben. Doch hier wurde alles getan, um die tatsächliche Situation Frankreichs möglichst nicht zur Sprache zu bringen und nur unverhältnismäßige Maßnahmenkataloge anzuführen. Und dann wundert man sich, dass kein neuer Schwung eingebracht wird.

Angeblich hat die Hälfte der Franzosen ihre Entscheidung für einen Kandidaten im letzten halben Jahr geändert – das ist durchaus verständlich. Von oben gesehen lautet das Resultat: 30 Prozent für Sarkozy, 30 Prozent für Hollande, 30 Prozent für heterodoxe Kandidaten. Statistiker können erklären, dass dieses Resultat mit drei Dritteln die Wahl des Zufalls ist. Die Franzosen, denen keiner erklärt, was man ihnen da eigentlich vorschlägt, wählen auf gut Glück. Oder, anders gesagt, frei nach Schnauze.

Intellektueller Rückschritt

Die Kampagne war ganz einfach enttäuschend, sie ging völlig „vorbei“ an den himmelschreienden Krisen, denen wir ausgesetzt sind: gravierende Wirtschaftskrise, existenzgefährdende Finanzkrise, erschreckende Arbeitslosigkeit, nicht enden wollende Europakrise. Das Ganze mitten im großen Machtumschwung zugunsten von Asien, angeregt durch einen revolutionären technologischen Wandel.

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Darüber ragen die globalen Probleme auf: Klima, Nahrungsmittel, Wasser. Und am Grund der Dinge liegt eine radikale gemeinsame Hinterfragung der beiden großen Ideologien – Liberalismus (zu ungleich) und Sozialdemokratie (zu teuer).

Angesichts dieses Bergs wäre es das Mindeste gewesen, die Härte der Zeiten auszuformulieren und sich ein bisschen in Bescheidenheit zu üben. Aber nein, Frankreich reitet wieder das Kredo seiner schönen „Ausnahme“.

Im Jahr 2007 war die Hoffnung groß: Die Kampagne war auf die Zukunft ausgerichtet gewesen. Nicolas Sarkozy schlug einen Umbruch vor, um die Produktion zu fördern und die Arbeit zu honorieren. Auch Ségolène Royale brach mit den traditionellen Gemeinplätzen ihrer Partei und schritt mit einer „partizipatorischen Demokratie“ voran, einer Idee, die im Einklang mit dem Internet und dem kommenden Jahrhundert stand. Im Jahr 2012 ist die intellektuelle Regression mustergültig: Die Kandidaten inspirieren sich an den Lösungen einer nicht etwa postliberalen, sondern präliberalen Welt.

Der deutsche Philosoph Peter Sloterdijk erklärt, Frankreich sei das einzige Land, das sich nie einer Gewissensprüfung unterzieht. Die Linke, weil sie sich reinwäscht, indem sie ständig die Standarte der Revolution als einzige Wahrheit hochhält. Die Rechte, weil sie vorgestern die Restauration durchsetzte und De Gaulle gestern das Jahr 1940 und die Kollaboration auslöschte. Die Vergangenheit wird verherrlicht – und wenn man sie angesichts der Erprobung zu Hilfe zieht, ist sie zwar glorreich, aber leider ohne jeglichen praktischen Nutzen. Sie dient, wie [Jean-Luc] Mélenchon sagt, nur dazu, „Träume zu wecken“.

Utopien

Eben darum geht es ja! Genug mit den Mythen! Die Linksextremen, [der konservativ-gaullistische] Nicolas Dupont-Aignan, [der Linkssozialist] Jean-Luc Mélenchon und [die rechtsextreme] Marine Le Pen predigen Protektionismus, Austritt aus dem Euro und Inflation. Sie müssten uns einmal erzählen, in welchem Land ihre Ideen Erfolg bewiesen haben. Haben ihre Wähler denn keine Augen im Kopf, dass sie das völlige Versagen eines Hugo Chavez im doch erdölreichen Venezuela und die Erfolge des Reformisten Lula da Silva in Brasilien nicht sehen? Oder die Sackgasse der populistischen Strategie des Zahlungsausfalls und der Inflation in Argentinien?

Der Defekt ist allgegenwärtig. Die Politik in Frankreich hinkt dramatisch um eine Denkform hinterher. Ideologie und Günstlingswirtschaft dominieren nach wie vor. Mangels historischer Einsicht. Auch weil die neuen Sozialwissenschaften und die Fortschritte in der pragmatischen Analyse nicht einbezogen werden.

Gegen die Armut, bei der Integration, beim Kampf gegen das Schulversagen und sogar bei den industriellen Errungenschaften setzen die französischen Forscher wie ihre ausländischen Kollegen neue Methoden aus der Pharmazie ein: Eine Reform wird auf einen Teil der Bevölkerung angewendet, auf den anderen nicht, dann werden die unterschiedlichen Ergebnisse wissenschaftlich untersucht. Daraus zieht man den Schluss, ob diese oder jene Reform zweckmäßig ist oder nicht.

Diese Forschung lässt sich von einer neuen geistigen Verfassung anregen, sie bleibt den Tatsachen gegenüber bescheiden und genau das fehlt den französischen Politikern noch. Wie François Hollande mit seinem Generationsvertrag oder Nicolas Sarkozy mit seinem Projekt für die Schulen schlagen sie immer noch Maßnahmen vor, die auf die Schnelle zusammengeschustert und nirgends ausgetestet wurden. Auf die Think-Tanks hört so gut wie niemand und in der Führungsspitze haben die Politiker immer noch Vorrang.

All das will sagen: Diese Kampagne erklärt beileibe nicht die Komplexität der Welt, die unausbleiblich bevorstehende Sparpolitik, den Produktionsdruck, das wieder neu aufzubauende Europa, die Bescheidenheit der sozialen Lösungen, und ebenso wenig die Überzeugung, dass die Zukunft die Türen weit öffnet. Statt dessen hat sie die Franzosen wieder in die Utopie, die Zaubergedanken und die Mythen getaucht. Der Weckruf kommt dann am 7. Mai.

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