EM 2012: Opfer politischer Machtspiele

Keinen Monat vor dem Beginn der Fußball-EM 2012 vergällt das Schicksal der Opponentin Julija Timoschenko die Beziehungen zwischen der EU und der Ukraine, die gemeinsam mit Polen die diesjährige Meisterschaft organisiert. Doch hinter der Frage der Menschenrechte zeichnen sich wichtige wirtschaftliche Einsätze ab.

Veröffentlicht am 15 Mai 2012 um 11:23

Mehrere bedeutende Politiker, angefangen bei den Deutschen, haben ihre Reise in die Ukraine aus Protest gegen die Inhaftierung der ehemaligen Ministerpräsidentin Julija Timoschenko und ihre schlechte Behandlung im Straflager von Charkiw abgesagt. Eine wahre Welle des Zorns lief durch Brüssel: Kommissionspräsident José Manuel Barroso sowie mehrere EU-Kommissare, darunter die Kommissarin für Bildung, Kultur, Jugend und Mehrsprachigkeit, Androulla Vassiliou [aus Zypern], und der Kommissar für Finanzplanung und Haushalt, der Pole Janusz Lewandowski, werden nicht nach Kiew fahren.

„Gemeinsam Geschichte schreiben“, heißt der offizielle Slogan der EM 2012. So lautet auch die Überzeugung von Hryhorij Surkis, Präsident des ukrainischen Fußballverbands: Seiner Meinung nach wird die EM 2012 den Umschwung [in der Ukraine] voranbringen, ob mit oder ohne die Kommissare aus Brüssel.

Für Polen war die EM 2012 das Versprechen eines zivilen Fortschritts – neue Autobahnen, neue Flughäfen und Bahnstrecken – und natürlich auch einer ultramodernen Sportinfrastruktur. Weiter besiegelte das Ereignis die Partnerschaft mit der Ukraine, die – über politische Spaltungen hinaus – für aufeinander folgende Regierungen und Präsidenten eine Priorität war.

Mit dem Messer an der Kehle

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Doch diese Beständigkeit war in der ukrainischen Politik der letzten Jahre nicht die Regel. Nach der Orangenen Revolution von 2004 kamen bald wachsende Spannungen zwischen [ihren beiden Hauptpersonen] Präsident Wiktor Juschtschenko und Ministerpräsidentin Julija Timoschenko auf. Das Land war von der Krise schwer getroffen, die auf Schwerindustrie und Bergbau beruhende ukrainische Wirtschaft angegriffen, und durch den Mangel an Reformen wurde die Situation nur verschlimmert. Die Staatskassen waren leer, die Inflation griff um sich, die [ukrainische Währung] Hrywnja fiel, es drohte der Bankrott und die Kredite der internationalen Finanzinstitutionen waren die einzig mögliche Rettung.

Währenddessen drehten die Russen mit großem Feingefühl den Gashahn zu und forderten die Unterzeichnung neuer Abkommen sowie die sofortige Zahlung aller Schulden. Die Lage spitzte sich dramatisch zu, denn es floss kein Gas mehr nach Europa. Die ukrainische Industrie stand kurz vor der Katastrophe und das Land kurz vor dem nationalen Aufstand. Also zog Timoschenko, damals Ministerpräsidentin, ein elegantes schwarzes Kleid an, legte eine Perlenkette um und fuhr nach Moskau, um mit [dem damaligen russischen Ministerpräsident] Putin zu verhandeln. Im Januar 2009 unterzeichneten die beiden Länder das Gasabkommen, das der Ministerpräsidentin ein paar Jahre später die Strafverfolgung und die Verurteilung zu sieben Jahren Haftstrafe wegen Machtmissbrauchs einbrachte, die sie derzeit abbüßt. Das besagte Abkommen war zwar vielleicht nicht perfekt, doch es wurde mit dem Messer an der Kehle unterzeichnet und rettete die ukrainische Wirtschaft.

Die Oligarchen wollen, dass die Meisterschaft ein Erfolg wird

In Wirklichkeit beendete das Abkommen die Vermittlerrolle der RosUkrEnergo: Das Unternehmen gehörte zu 50% der [russischen] Gazprom und zur anderen Hälfte dem ukrainischen Oligarchen Dmytro Firtasch, welcher der Partei der Regionen des heutigen Präsidenten Viktor Janukowitsch sehr nahe stand. Infolge des Abkommens erlitt es beträchtliche Verluste.

Sport und Politik sind in der Ukraine so dicht verflochten wie die Haare in Julija Timoschenkos Zopf. So sehr, dass man sich durchaus vorstellen kann, dass die Oligarchen, die Millionen in den Bau neuer Stadien investiert haben, zu allem bereit sind, damit die Meisterschaft ein Erfolg wird. Das Land soll der Integration mit der Europäischen Union, mit der sie sich Geschäftsbeziehungen erhoffen, einen Schritt näher kommen. Diese Sponsoren der ukrainischen Politik sind diejenigen, die einen Druck auf den Präsidenten ausüben könnten, damit er die Timoschenko-Affäre beschwichtigt. Warum also tun sie es nicht? Weil sie wissen, dass Janukowitsch mit einem Fingerschnippen die Goldadern abriegeln kann, aus denen sie sich bedienen.

Kaum war er Präsident, wollte Janukowitsch unbedingt mit Julija Timoschenko abrechnen. Während der Orangenen Revolutionen hatte sie ihm, zusammen mit Juschtschenko, die Macht entrissen, ihn des Wahlbetrugs beschuldigt und seine kriminelle Vergangenheit ans Licht gebracht. Solche Fehler vergisst man nicht. Seine Partei verlor ihre Stellung, ihren Einfluss und viel Geld.

Während Julija Timoschenkos Prozess herrschte zwar Skandalstimmung, doch Brüssel unterbrach seine Verhandlungen mit der Ukraine über das Assoziierungsabkommen nicht. Das Abkommen wurde schließlich paraphiert – und dies nicht etwa, wie ursprünglich geplant, während des polnischen Vorsitzes sondern erst Ende März dieses Jahres. Heute kommt eine Ratifizierung nicht mehr in Frage.

Janukowitsch ist zu weit gegangen

Angeblich hat Janukowitsch in Berlin versprochen, das Gesetz abzuändern, damit Timoschenko freigelassen werden kann – doch gleichzeitig betonte er die Unabhängigkeit der ukrainischen Gerichte.

Zudem hat Timoschenko auch keine weiße Weste. Sie verdiente ihre Millionen auf dieselbe Art wie so viele andere, die zu Beginn des Umbruchs Geschäfte mit dem Staat tätigten oder an der Privatisierung teilnahmen. Timoschenko und ihre Familie fassten Fuß in der Energiebranche, in der unvorstellbare Geldströme flossen. Zu groß, um neutral zu bleiben und sich nicht in der Politik festzusetzen.

Als Regierungschefin verteilte sie ohne zu zögern Staatsgelder und übte einen extremen Populismus aus – mit dem alleinigen Ziel, an der Macht zu bleiben. Doch gleichzeitig war sie das neue Gesicht der Ukraine: eine schöne Frau, ganz anders als das strenge, altmodische und altbekannte sowjetische Image.

Warum also beschäftigt Timoschenkos Schicksal erst heute den Westen? Weil Janukowitsch zu weit gegangen ist. Er täuschte die führenden Politiker im Westen, insbesondere Angela Merkel. Er hätte eine Million Ausflüchte finden können, um das Gesicht zu wahren. Statt dessen warf er sich weiter in die Bresche, auch wenn dies die Ukraine komplett in Misskredit bringen sollte – was heute der Fall ist.

Die Verfechter der Verschwörungstheorie bleiben jedoch davon überzeugt, dass der in Berlin gestartete Boykott nur ein deutsch-russischer Versuch ist, die Europastrategie umzulenken und die Ukraine in die Arme Moskaus zu treiben. Dazu sollten das ukrainische Trachten nach mehr Europa sowie die polnischen Bemühungen zugunsten einer europäischen und nicht etwa russischen Zukunft untergraben werden. In diesem Fall wäre die Timoschenko-Affäre also nur ein Vorwand, um die Ukraine fallen zu lassen. Wie auch immer, das Klima rund um die EM 2012 ist in der Tat verpestet.

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