Grafitti in Lisbon, April 2011 — "International Monetary Fund get out of here. Precarious they want us to be, rebels they will get."

Unter der Fuchtel der Troika

Seit 14 Monaten beobachten der IWF, die EZB und die Europäische Kommission das Land mit Argusaugen. Sie haben ihm Geld geliehen, damit es seine Schulden bedienen kann. Jetzt überprüfen die Emissäre der Geldgeber vor Ort die Umsetzung der Reformen, während die Bevölkerung „mehr Zeit, mehr Geld und bessere Bedingungen“ fordert.

Veröffentlicht am 7 Juni 2012 um 14:52
Grafitti in Lisbon, April 2011 — "International Monetary Fund get out of here. Precarious they want us to be, rebels they will get."

Wenn in Portugal von MoU die Rede ist, dann handelt es sich nicht um den berühmten Trainer von Real Madrid [José Mourinho].

Das MoU (Memorandum of Understanding on Specific Economic Policy Conditionality) diktiert das Wirtschaftsleben dieses Landes mit 10,6 Millionen Einwohnern, die im April zu radikalen Umschwüngen neigen.

Im April 1974 führte die Nelkenrevolution die Demokratie ein. Im April 2011 sah sich die Regierung des Ministerpräsidenten José Sócrates gezwungen, dem Beispiel Irlands und Griechenlands zu folgen und die Europäische Union um Hilfe zu bitten.

Einen Monat später wurden Portugal 78.000 Millionen Euro zugesagt, die mit rund 4 Prozent verzinst sind und in Raten ausbezahlt werden. Voraussetzung für diese Unterstützung ist die Umsetzung tiefgreifender, schmerzlicher Reformen.

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Zuckerbrot und Peitsche

Die Voraussetzungen für die Sanierung der portugiesischen Staatsfinanzen und die Rückkehr des Landes an die Finanzmärkte im September 2013 werden von der Troika aus Internationalem Währungsfonds (IWF), Europäischer Kommission und Europäischer Zentralbank (EZB) bestimmt, deren Kontrolleure regelmäßig nach Lissabon kommen.

Gerade diese Woche findet wieder eine dieser Inspektionen statt. Die vierte, seitdem die Portugiesen unter der Fuchtel der Troika leben. Durchgeführt werden die Kontrollen von einem Team aus jungen Technikern mit Laptops, die 14 Tage lang nach Zahlen, Fristen und Unterlagen suchen.

Drei hohe Beamte sind mit den Kontakten auf politischer Ebene beauftragt: Abebe Selassie (IWF), Jürgen Kröger (Europäische Kommission) und Rasmus Rüffer (EZB).

„In anderen Ländern wären sie schon auf dem Flughafen mit Protesten empfangen worden, aber nicht bei uns, wir sind nicht wie die Spanier“, erklärt der Soziologe Jorge de Sá, der seit vielen Jahren mit monatlichen Umfragen untersucht, wie die öffentliche Meinung sich in Portugal entwickelt.

Stille Verzweiflung

Nicolau Santos, Wirtschaftsjournalist und stellvertretender Direktor der namhaften Wochenzeitschrift „Expresso“, spricht von einer „stillen Verzweiflung“ angesichts der spärlichen Protestbewegungen, die in diesem von Rettungsplan, Wahlen, Regierungswechsel und erzwungener Sanierung geprägten Jahr in Portugal verzeichnet wurden.

João Cantiga Esteves zufolge, der zu den am besten über die portugiesische Krise unterrichteten Ökonomen zählt, gibt es einen stillschweigenden gesellschaftlichen Konsens.

Die Troika stelle „eine nötige Hilfe, eine Chance dar“, um alle Reformen voranzutreiben, die von den früheren Regierungen nicht auf den Weg gebracht werden konnten.

Dieser Konformismus bedeutet nicht, dass Portugal im letzten Jahr keinen Grund gehabt hätte, sein trauriges Schicksal zu beklagen. Die Sparmaßnahmen wirken sich direkt auf den Alltag der Bevölkerung aus.

Die von der Troika auferlegten Kürzungen sollen das Haushaltsdefizit, das 2010 mehr als 9 Prozent des portugiesischen Bruttoinlandsprodukt (BIP) betrug, dieses Jahr auf 4,5 Prozent senken. „Wir haben das Messer durch eine Säge ersetzt“, meint eine junge und beneidenswert polyglotte Passantin am Plaza del Rossio in der Lissabonner Altstadt.

Kürzungen ohne Ende

Obwohl die Löhne und Gehälter in Portugal um einiges niedriger sind als in Spanien – die spanischen Mileuristas [1000-Euro-Verdiener] entsprechen den portugiesischen 560-Euro-Verdienern – werden die geforderten Opfer immer größer.

Seitdem die Weihnachtsprämie aller Portugiesen, die monatlich mehr als 485 Euro, d. h. den Mindestlohn, verdienen, mit 50 Prozent besteuert wird, sind Krise und Sanierung keine theoretischen Konzepte mehr.

Dazu kommen noch Kürzungen an allen Ecken und Enden: Gesundheit, Bildung, öffentliche Verkehrsmittel etc. und die Anhebung des höchsten Umsatzsteuersatzes auf stolze 23 Prozent.

Die Bedingungen des Rettungsplans wurden zwar von der sozialistischen Regierung mit der Troika ausgehandelt, für die Umsetzung ist jedoch das neue Kabinett von Pedro Passos Coelho zuständig. Es handelt sich um die jüngste und kleinste Regierung seit der Nelkenrevolution.

Vier der elf Minister sind parteilos. Dazu gehört auch der Finanzminister, Vitor Gaspar.

Er bestätigte im Frühjahr, dass Rentner und Beamte mindestens bis 2018 warten müssten, bevor das abgeschaffte Weihnachts- und Urlaubsgeld wieder eingeführt wird.

Kritiker beanstanden, dass die portugiesische Regierung mit ihrem Plan, die Sanierung zu beschleunigen und zu intensivieren, „troikanischer“ als die Troika sei. Bis jetzt hat das Kabinett nur eine Forderung der Troika abgelehnt, nämlich die Senkung des Arbeitgeberbeitrags zur portugiesischen Sozialversicherung.

Bei den regelmäßigen Überprüfungen der Umsetzung des MoU hat Portugal als Musterpatient ausgezeichnete Noten erhalten, auch wenn in Europa heftig über die Schmerzgrenzen der Sparmaßnahmen diskutiert wird.

Obwohl allen Forderungen entsprochen wurde, ist der Zustand der portugiesischen Wirtschaft immer noch kritisch. Dieses Jahr wird ein Rückgang des BIP von 3,1 bis 3,5 Prozent erwartet. Mehr als 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung haben keine Arbeit, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt sogar 36 Prozent.

Schuldenquote wird auf 118% steigen

Als die Rettung beantragt wurde, beliefen sich die Schulden auf 107 Prozent des BIP. Wenn es aber so weitergeht, wird die Schuldenquote bis zum Ende des Rettungsplans im September 2013 auf 118 Prozent steigen.

Der Wirtschaftsprofessor João Cantiga Esteves meint, Portugal wäre mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert als Irland mit seiner Bankenkrise und Griechenland mit seinen frisierten Bilanzen.

Das portugiesische Problem sei darauf zurückzuführen, dass „unsere Wirtschaft in den letzten zehn Jahren durchschnittlich nur um 0,7 Prozent pro Jahr gewachsen ist und der Staat und die Bevölkerung sich zu stark verschuldet haben“.

Angesichts der Polemik über den Musterpatienten und die Notwendigkeit eines zweiten Rettungsplans bemerkt der Soziologe Jorge de Sá mit der seinen Landsleuten eigenen Ironie: „Sagen Sie mir bitte, wann der IWF etwas in einer Demokratie geheilt hat.“

Nicola Santos, der stellvertretende Direktor von „Expresso“, gehört zu jenen, deren Meinung nach eine zweite Intervention kaum zu vermeiden sei. „Wir brauchen mehr Zeit, mehr Geld und bessere Bedingungen.“

Aus Lissabon

Ein Jahr nach der Rettung ist die Troika nicht wirklich glücklich

Die EU-EZB-IWF-Troika gibt weitere Hilfsgelder für Portugal frei: 4,1 Milliarden Euro soll das Land erhalten. Damit genehmigt die Troika Portugal die fünfte Tranche des im Mai 2001 bewilligten 78 Milliarden Euro schweren Rettungspakets.

Allerdings meldete die Troika trotz der allgemeinen Zufriedenheit mit den laufenden Reformen Bedenken bezüglich der Arbeitslosenrate an (15,9 Prozent), berichtet das Jornal de Négocios aus Lissabon. Laut Finanzminister Vitor Gaspar könnte die Arbeitslosenquote „im kommenden Jahr die 16 Prozent-Marke erreichen – eine Prämiere in der jüngeren Geschichte Portugals.“

Darüber hinaus wirft das Lissabonner Tagesblatt der Troika vor, die Regierung zu sehr zu drängen, die laufende Reform des portugiesischen Arbeitsmarkts zu beschleunigen. Im vergangenen Monat lockerte man Arbeitszeiten und Kündigungsschutz und schuf einige Feiertage ab.

Wie wir alle hat sich auch die Troika mit den Prognosen der Arbeitslosigkeit verschätzt. Allerdings will sie so weitermachen und die falsche Therapie anwenden. Die meisten Wirtschaftsexperten hielten das portugiesische Arbeitsrecht für viel zu starr. [...] Die harte Realität aber bewies, dass die Arbeitsgesetze bereits flexibel genug sind [...].

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