Europäer kommen zuerst aus Nationen

Die EU ist ein Reich, sagt Historiker Thierry Baudet. Das sei auch in Ordnung so, antwortet Philosoph Roger Scruton, solange sie die Nationen unter ihrem Dach nicht abwertet. Denn aus ihnen komme der Gemeinschaftssinn.

Veröffentlicht am 10 Juli 2012 um 10:39

Thierry Baudet stellt in seinem Buch und in seinem Artikel im NRC Handelsblad umstrittene Thesen auf. Aber in einem hat er recht: Das Projekt der europäischen Integration stützt sich auf den Glauben, dass Nationalstaatlichkeit und nationale Selbstbestimmung die Hauptursachen der Kriege waren, die Europa zerstörten. Infolge dieser Überzeugung wurde die europäische Integration eindimensional als zentral gesteuerter, allmählich voranschreitender Einheitsprozess konzipiert. Jede Stärkung der zentralen Macht sollte zu einer Schwächung der einzelstaatlichen Macht führen.

In anderen Worten soll der politische Prozess in Europa nur in eine Richtung laufen. Diese Richtung wurde nicht von den europäischen Völkern gewählt. Jedes Mal, wenn sie die Möglichkeit haben zu wählen, weisen sie diese Richtung zurück, deshalb wird alles getan, damit sie niemals die Möglichkeit haben, ihre Stimme abzugeben. Der Prozess führt zu Zentralisierung, Kontrolle von oben, Diktatur nicht gewählter Bürokraten und Richter, Aufhebung von Gesetzen, die gewählte Parlamente verabschiedet haben, konstitutionellen Verträgen, die ohne Befragung des Volkes erstellt werden, und einer Währung, die von oben und ohne klare Entscheidung, wer die damit verbundenen Schulden tragen soll, aufgezwungen wird.

Am Ende des Prozesses steht eine herrschaftliche Regierung, die klar zeigt, dass das Gegenteil von Nationalstaatlichkeit nicht Aufklärung sondern Imperium heißt. Nur das Nationalbewusstsein der Europäer widersetzt sich diesem Ergebnis.

Loyalitäten in nationaler Form

Als Engländer und Bewunderer des Römischen Reichs stehe ich einem Imperium nicht feindlich gegenüber. Aber es ist wichtig zu erkennen, was es voraussetzt sowie welche Formen gut und welche schlecht sind. Meiner Ansicht nach dienen die guten Formen dazu, die vor Ort herrschenden Loyalitäten und Einrichtungen unter dem Dach der Zivilisation und des Rechts zu schützen, während die schlechten Formen versuchen, die lokalen Gepflogenheiten und rivalisierenden Loyalitäten durch eine gesetzlose Zentralmacht zu ersetzen.

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Die Europäische Union besitzt Eigenschaften der guten und der schlechten Form. Sie leidet jedoch vor allem darunter, dass es ihr nie gelungen ist, die europäischen Völker von ihr zu überzeugen. Europa ist und war meines Erachtens schon immer eine nationalstaatliche Zivilisation, die auf einer eigenen vorpolitischen Ergebenheit aufbaut, Staatsgebiet und Brauchtum in den Vordergrund und Religion und Dynastien in den Hintergrund stellt. Verleiht den europäischen Völkern eine Stimme und sie werden ihre Loyalität auf diese Weise ausdrücken. Wenn die Loyalität bedingungslos ist, d.h. eher auf Identität als auf Übereinstimmung beruht, beruft sie sich auf die Nation.

Der politischen Klasse in Europa gefällt das gar nicht, deshalb verteufelt sie den unverhohlenen Ausdruck des Nationalbewusstseins. All jene, die sich für Jeanne d’Arc und das pays réel, für Britannien und den Hl. Georg, für die dichten Wälder Lemmenkäinens und die wahren Finnen, die ihn bevölkern, oder für Henk und Ilsa stark machen, werden Faschisten, Rassisten und Extremisten geschimpft. In ganz Europa wird diese Liturgie der Denunziation von einer politischen Klasse wiederholt, die vorgibt, gewöhnliche Loyalität zu verachten, obwohl sie eigentlich davon abhängt.

Nationale Loyalität hat mit Rassismus nichts zu tun

Nationalbewusstsein ist für die meisten Durchschnittseuropäer das einzige öffentlich verfügbare und öffentlich geteilte Motiv, das eine Aufopferung für die gemeinsame Sache rechtfertigt, die einzige Plicht im öffentlichen Bereich, die nicht ver- und gekauft werden kann. Wenn Menschen nicht wählen, um ihre eigenen Taschen zu füllen, so wählen sie, um eine gemeinsame Identität vor jenen zu schützen, die nicht dazu gehören und die versuchen, ein Erbe zu plündern, auf das sie keinen Anspruch haben. Nationale Loyalität hat intrinsisch nichts mit Rassismus oder Faschismus zu tun: Ihr grundlegender Ausdruck ist die Bindung an ein Staatsgebiet und die Gesellschaft, die sich darauf entwickelt hat.

Die gegenwärtige Krise hat uns sehr klar ins Bewusstsein gerufen, dass Politiker in schlechten Zeiten Opfer von uns verlangen und auch erwarten, dass wir sie erbringen. Aber wie kann man sich ohne Zugehörigkeitsgefühl für etwas aufopfern, und wie soll ein Zugehörigkeitsgefühl entstehen, wenn es keine Grenzen gibt, die „uns“ von den „anderen“ trennen? Wir sollten Thierry Baudet dafür danken, dass er diese Fragen aufgeworfen und eine Diskussion entfacht hat, die wir in Großbritannien und den übrigen europäischen Ländern genauso dringend benötigen wie in Holland.

Roger Scruton, Jahrgang 1944, ist ein britischer Schriftsteller und Philosoph. Er studierte in Cambridge und lehrte an mehreren britischen und amerikanischen Universitäten wie Princeton und Stanford. Der in Reaktion auf Mai 68 konservativ eingestellte Autor verfasste rund dreißig Werke über Politik, Sexualität und Kunst, schrieb einige Romane und komponierte zwei Opern.

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