Ein Meer von Vorurteilen zwischen Ost und West

Nach den Muslimen stehen heute die Osteuropäer im Visier der extremen Rechten. Eine Feinseligkeit, die auf Klischeevorstellungen fußt, die in ganz Westeuropa verbreitet sind, bedauert eine Journalistin aus Litauen. Dennoch, meint sie, seien auch ihre Landsleute nicht frei von Vorurteilen.

Veröffentlicht am 16 Juli 2012 um 10:51

„Hast du Ärger mit Migranten aus Mittel- oder Osteuropa? Wir wollen es hören.“ Mit dieser Frage und Aufforderung wird man auf einer Webseite der rechtsextremistischen niederländischen Partei für Freiheit begrüßt. Parteiführer Geert Wilders ist für seine Ausfälle gegen Muslime und Islam bekannt. Nun hat er einen neuen Weg entdeckt, um beim niederländischen Durchschnittswähler auf Stimmenfang zu gehen. Im vergangenen Februar hat seine Partei eine Webseite eröffnet, auf der Probleme, die durch „Polen, Bulgaren, Rumänen und andere Osteuropäer“ verursacht wurden, gemeldet werden sollen.

Nach Angaben des niederländischen Statistikamts haben sich 2011 rund 200.000 Osteuropäer legal im Land niedergelassen. Mit 136.000 Menschen stellen die Polen die große Mehrheit. Doch auch 2078 Litauer, 1885 Letten und 665 Esten meldeten sich in diesem Zeitraum an. In einem Land mit 17 Millionen Einwohnern stellt das nicht einmal ein Prozent dar.

Es ist auffällig, dass sich der Hass der Rechtsextremen gegenüber Migranten, die nicht westliche Werte respektieren würden, heute auf eine neue Gruppe konzentriert. Nach dem 11. September wurden Islam und Muslime zum Sündenbock aller Probleme der Gesellschaft. Heute übernehmen die Osteuropäer diese Rolle.

Eine verdrehte Situation

Für den aus den Niederlanden stammenden Journalisten der Financial Times Simon Kuper gibt es dafür mehrere Gründe. Zunächst einmal begrenzen die Niederlande die Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten: die Anzahl der Türken und Marokkaner nimmt ab.

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Zweitens integrierten sich die Muslime besser. Sie sprächen Niederländisch und stünden in der Kriminalitätsstatistik nicht an erster Stelle. Deshalb sei es auch nicht verwunderlich, meint Simon Kuper, dass die seit einigen Jahren massiv zugewanderten Mittel- und Osteuropäer nach und nach zu den „neuen Muslimen“ werden. In den Augen der Westeuropäer seien diese vom Postsowjetismus geprägt, sprächen unverständliche Sprachen und erschienen den Menschen so fremd wie Türken und Marrokkaner.

Die Spuren des Kalten Kriegs spalten immer noch West- und Osteuropäer. Letztere wurden von den Populisten instrumentalisiert. Die Diskriminierung der Osteuropäer nährt sich aus der Tatsache, dass sie dem Westeuropäer weniger zivilisiert oder tolerant erscheinen. Das hat gute Gründe. Im Gegensatz zu den Westeuropäern verhalten sich die aus dem Osten nicht „politisch korrekt. Sie spielen mit einer explosiven Mischung der Intoleranz: Hass gegenüber Schwarzen, Homophobie oder Antisemitismus, die im Westen verpönt sind.

Die eigene Erfahrung der Emigration hat die Litauer nicht von ihrer Intoleranz geheilt. Im Gegenteil. Wenn sie aus London, Dublin oder den skandinavischen Ländern nach Hause kommen, erzählen sie bereitwillig Horrorgeschichten über Schwarze, Muslime und andere Nicht-Europäer, die Europa überrennen würden, und schüren somit die heimischen Vorurteile. Und vor allem geben sie nicht zu, dass sie selbst in den Augen der Westeuropäer als „Eindringlinge“ gelten.

„Die schwarze Seele der Menschen“

Und es ist genau der Rassismus, die Homophobie und die mangelhafte Demokratie, welche die Westeuropäer vorschieben, um den Unterschied zu den Menschen des Ostens zu erklären. Ein paradoxe Situation, denn es ist doch im Westen, wo Fremdenfeindlichkeit und Rassismus innerhalb von aufstrebenden nationalistischen Parteien immer mehr Anhänger bekommen.

Die jüngst zu Ende gegangene EM 2012 ist das perfekte Symbol dieser Stigmatisierung. Die westliche Presse nahm sie zum Anlass, um über die Probleme Osteuropas zu berichten, aber immer aus dem Blickwinkel der Stereotypen des vergangenen Jahrhunderts. Unzählige Artikel erschienen über den Antisemitismus in Polen, die Arbeiterklasse in der Ukraine und über die Frauen Osteuropas, die allesamt Nutten seien.

Vor Beginn der Fußball-Europameisterschaft hielt ein Werbespot im niederländischen Fernsehen die Frauen an, sie sollen ihre Männer bloß nicht in die Ukraine oder nach Polen reisen lassen: „Frauen, unterschreibt einen Drei- oder Fünfjahresvertrag mit dem niederländischen Elektrizitätswerken und ihr bekommt gratis Bier“, flüsterte eine weibliche Stimme in verschwörerischem Ton.

Der Werbespot ist ein Paradebeispiel für Sexismus und Rassismus. Die Osteuropäerinnen werden als das absolute Gegenteil der Niederländerinnen präsentiert. Da ist es nicht verwunderlich das die Aktivistinnen von Femen, die durch ihre barbusigen Protestaktionen in der Öffentlichkeit bekannt wurden, die EM 2012 mit folgenden Slogan empfingen: „Die Ukraine ist kein Bordell.“ Und das ist noch eins der harmloseren Klischees.

In Lviv, schrieb der Journalist des Guardian Michael Goldfarb, habe er „die schwarze Seele der Menschen“ kennengelernt. Polen war gemeint. Er nannte das Land „Zentrum des Holocausts“, ohne die Verantwortung des NS-Regimes auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

Wie kann dies Bild von Osteuropa im heutigen, von der EU geprägten Europa verändert werden? Die Antwort auf diese Frage liegt beim „polnischen Klempner“ und den „ukrainischen Nutten“. (js)

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