Demonstration in Barcelona. Hundertausende gingen am 19. Juli in spanischen Städten auf die Straße.

Neuer Mannschaftsgeist gesucht

Am 19. Juli gingen hunderttausende Spanier gegen die Sparpolitik der Regierung Rajoy auf die Straße. Das Vertrauen zwischen Volk und Regierung ist gebrochen, obwohl das Land gerade heute einen Neustart braucht, klagt der Soziologe Fernando Vallespín.

Veröffentlicht am 20 Juli 2012 um 14:49
Demonstration in Barcelona. Hundertausende gingen am 19. Juli in spanischen Städten auf die Straße.

Die vergangene Legislaturperiode stand schon unter dem Zeichen der Ausnahme, aber wer jetzt die Regierung dafür anprangert, der muss sich geweigert haben, den Dingen ins Auge zu sehen. Die damalige Priorität war nicht das Land, sondern wahlpolitische Interessen. Und als dieses Ziel dann erreicht war, begann die Regierung all das umzusetzen, was sie uns versprochen hatte, nicht zu tun. Wer weiß, hätten sie es gleich nach Regierungsantritt alles auf einen Schlag umgesetzt, hätten sie vielleicht sogar ein bisschen Effizienz erreicht.

Aber nein, es musste ja eine homöopathische Behandlung sein und keine Schocktherapie, denn es gab ja noch einige politischen Unsicherheiten, wie die Wahlen in Andalusien beispielsweise. Die damaligen Führungsriegen haben ihrerseits nicht schlagkräftig gehandelt, bis ihnen Europa im wortwörtlichen Sinne auf die Pelle gerückt ist. Und in beiden Fällen standen die politischen Interessen der Akteure über dem, was in der Ausnahmesituation erforderlich gewesen wäre.

Wir, der Pariastaat

Das Ergebnis war, dass eine schon an sich würdelose politische Klasse noch mehr Schande auf sich gezogen hat. Diejenigen, die damals die Lösung hätten bieten sollen für die heutigen so unsicheren Zeiten, stellen sich für die immer skeptischere Bevölkerung als Teil des Problems heraus. Und dabei glaubt keiner keinem. Nicht den Politikern, nicht den Experten, nicht den Technokraten und schon gar nicht den Eliten oder Personen oder Institutionen, die bislang als Autoritäten gegolten haben.

Wir befinden uns in der schlimmsten der möglichen Situationen, weil wir niemandem mehr vertrauen können. Und was noch schlimmer ist, uns vertraut auch niemand; wir sind von einem Tag auf den anderen zu einem Pariastaat geworden.

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Uns Bürgern ist auf einmal schlagartig bewusst geworden, dass wir alleine sind. Und diese Einsamkeit und Blockade, in der wir uns befinden, führt zu Enttäuschung oder sogar zu größtmöglichem Nihilismus. Keine Gemeinschaft kann ohne Zukunftsperspektiven leben, ohne die Gewissheit, ihr Schicksal selbst bestimmen zu können.

Selbst unter diesen Umständen ist alles noch erträglich, außer dem Bewusstsein, dass man uns betrogen hat. Man hat uns öffentliche Dienstleistungen versprochen, die sich jetzt als nicht mehr finanzierbar erweisen; ein Modell für die wirtschaftliche Entwicklung, das betrügerisch ist, das auf Sand gebaut war und das einen falschen Eindruck von Wohlstand vermittelt hat; ein Europa, von dem wir uns erhofft haben, es könne unsere Souveränität garantieren und stärken, statt sie zu untergraben. Wir erkennen unser eigenes Spiegelbild nicht mehr. Unter anderem auch deshalb, weil wir diesen Spiegel gestützt haben jetzt ohne Kleider dastehen.

„Nicht die Liebe, das Entsetzen verbindet uns“

In der jetzigen Lage bleiben uns zwei Möglichkeiten: den Spiegel zerstören, uns die Kleider vom Leibe reißen und alle zusammen in einem Zombi-Land ohne Richtung in eine kollektive Depression verfallen, oder die Tugenden, die wir noch haben, stärken – und das sind gewiss nicht wenige. Darüber hinaus sind wir zwar alleine, aber darin stärker geeint als je zuvor. Wie der Schriftsteller Borges einmal ganz treffend sagte, „es ist nicht die Liebe, die uns verbindet, sondern das Entsetzen“. Und von Hobbes wissen wir, das die Leidenschaft, die uns zur Zusammenarbeit motiviert, nicht der Altruismus ist, sondern die Angst.

Heute ist unser größtes Problem, wie wir aktiv werden können, wie wir unser Misstrauen, die Lähmung und die Skepsis in positives Handeln wenden können, wie wir die Schwierigkeiten, die vor uns liegen in effektive Lösungen umwandeln können. Dafür aber benötigt man ein Projekt, bei dem man klare Handlungslinien abstecken muss, wo man das Wichtige vom Überflüssigen trennen muss und die Entsagungen und den Mangel von heute in klare Aussichten auf eine bessere Zukunft umgestalten kann. Und hierfür ist eine gute Führung unerlässlich, aber gerade darin besteht unser größter Mangel.

Die, die da oben das Sagen haben, beschränken sich heute darauf, ohne Sinn und Verstand Brände zu löschen, ohne eine tragfähige Vorstellung für die Zukunft; und die da unten, was bleibt ihnen auch anderes übrig, kämpfen auf den Straßen für das was man ihnen in den Amtsstuben entsagt. Es fehlt die Verzahnung, etwas, das uns in einen kollektiven Prozess einbindet und nach und nach das verlorene Vertrauen wieder aufbaut.

Wir haben die Wahl zwischen einem nihilistischen Konflikt wie in Griechenland oder einem etwas positiveren Zusammenhalt wie in Irland; wollen wir das Entsetzen in eine lähmende Stockstarre wenden und uns als Opfer sehen oder in kreative und verantwortungsbewusste Energie? Die Antwort hängt von uns allen ab.

Kontra

Rajoy zwischen Hammer und Amboss

„Regierung zwischen Hammer der Märkte und Amboss der Straße”, titelt El Mundo am Folgetag der Demonstrationen, bei denen in den großen spanischen Städten Hunderttausende auf die Straße gingen. Gleichzeitig akzeptierte das Parlament den letzten Teil des von Ministerpräsident Mariano Rajoy angekündigten 65 Milliarden schweren Sparpaketes.

Der Madrider Tageszeitung zufolge hat die Regierung „keinen Handlungsspielraum, um dem Druck ausweichen“ zu können. Dieser wird auch trotz der Genehmigung der Finanzhilfe des deutschen und finnischen Parlaments für den Banksektor (in Höhe von maximal 100 Milliarden Euro) nicht schwächer. Auch von den Finanzmärkten lässt der Druck mit einer Rekord-Risikoprämie von 5,93 Prozent nicht nach.

Der Leitartikler José María Carrascal der konservativen Tageszeitung ABC ist im Gegensatz dazu der Auffassung, dass die „Kürzungen Stimuli sein können“, die für die Wiederbelebung der Wirtschaft des Landes absolut notwendig seien:

Kürzungen und Stimuli sind keine Gegensätze. Sie wirken zusammen, denn die Kürzungen sind die Basis für den Stimulus. Anders ausgedrückt: Die Wirtschaft ohne Budgetkürzungen anzukurbeln hilft nicht. Moderne Stimuli in eine veraltete Wirtschaft einzuführen, ist wie Eulen nach Athen zu tragen [...] Spanien ist ein überschuldetes, übersubventioniertes, überreguliertes Land, in jeglicher Hinsicht – national, regional, kommunal oder finanziell – mit Ballast beladen. Es muss sich vor allem erstmal von den Schulden, den Subventionen, den Regulierungen, von diesem in Jahrzehnten der steuerlichen und behördlichen Laxheit angehäuften Ballast befreien. Zu behaupten, wir bräuchten vor allem Stimuli, ist als ob man einer Person, die 250 Kilo wiegt, Hamburger und Spaghetti zu essen geben würde.

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