Der Euro unseres Unbehagens

Erdacht, um ein halbes Jahrtausend Konflikt zu beenden, steht die politische Einigung Europas heute vor einer unsicheren Zukunft. Weder teilen die Europäer noch eine gemeinsame Vision, noch werden die USA die Existenz des Euro akzeptieren, sagt der portugiesische Essayist Eduardo Lourenço.

Veröffentlicht am 2 August 2012 um 14:50

Vor einem halben Jahrhundert haben die im Zweiten Weltkrieg besiegten Mächte versucht, ein völlig neues politisches Vorhaben umzusetzen, das aus Europa eine wirtschaftliche, politische und kulturelle Einheit schmieden sollte, ähnlich einer „Nation“, die es bis heute noch nicht gibt. Nach den beiden zerstörerischen Ereignissen im 20. Jahrhundert träumten die Akteure und Verantwortlichen dieser Auseinandersetzungen aus Verzweiflung von einem neuen Europa.

Der europäische Selbstmord schien die Synthese des fünfhundertjährigen Kampfs um die Vormachtstellung zu sein, den sich Spanien, Frankreich, England, Holland und später auch noch Österreich, Preußen und Russland lieferten. Gelegentlich nahmen Schweden und Portugal als Verbündete einer dieser nach Hegemonie strebenden Mächte teil.

Unsere europäische Vergangenheit gleicht einem langen Bürgerkrieg mit Unterbrechungen, schließlich verbindet alle diese Nationen eine gemeinsame Kultur, ein Erbe der Antike und des Christentums (katholischer, protestantischer und orthodoxer Färbung), das seit dem Fall von Konstantinopel auch mit anderen Kulturen und religiösen Referenzen konfrontiert wurde.

Der beunruhigende Erfolg des Euro

Mit einem so komplizierten Erbe ist es wohl nicht weiter verwunderlich, dass das sogenannte Westeuropa, das erstmals ernsthaft und demokratisch versuchte, ein Europa mit internationaler Bedeutung aufzubauen, so vielen Schwierigkeiten bei der Umsetzung seines utopischen Unterfangens begegnet ist. Zudem mussten die teilnehmenden Nationen ihr Projekt trotz seiner Dringlichkeit im Rahmen eines Kalten Krieges realisieren, in dem die USA und die Sowjetunion um die Vorherrschaft rangen und Europa für sich in Anspruch nehmen wollten.

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Bis zum Fall der Berliner Mauer war Europa zweigeteilt. Isoliert davon stand als organisch mit den Vereinigten Staaten verbundene Macht (und umgekehrt) Großbritannien. Beide lenkten und lenken immer noch, heute mehr denn je und trotz des hegemonialen Auftritts des wiedervereinigten Deutschlands, ein Europa im Aufbau, das überzeugt ist, mit der Einführung einer europäischen Währung mit internationaler Bedeutung (außer in England) einen Riesenschritt in diesem Aufbau gemacht zu haben.

Heute kann man behaupten, dass die Einführung des Euro der Goldtropfen war, der das Heiligste vom Heiligen, den Fetisch Dollar, die einzige Währung der globalisierten Welt, erzittern ließ. Die sakrosankte Devise der politischen, finanziellen, technologischen und vor allem auch kulturell amerikanisierten Welt. Vielleicht ist es gar nicht so abwegig sich vorzustellen, dass die Einführung, die Bestätigung und der (vielleicht exzessive?) Erfolg des Euro niemals aufgehört haben, das weltweite Währungssystem zu beunruhigen, das mit dem Dollar und seiner absoluten Suprematie die Waffe schlechthin besitzt, mit der die nicht minder unentbehrliche Waffe Erdöl gekauft und der Weltmarkt beherrscht werden kann.

Die politische Zentralität Deutschlands

Es ist auch nicht nötig, auf die vielen ideologisch-finanziellen Verschwörungstheorien zurückzugreifen, um die beinahe universelle Krise im Herzen des Kapitalismus der Informatikära zu erklären oder sie als Versuch zu entlarven, den Euro zu destabilisieren, dadurch die angestrebte politische Autonomie des neuen Europas zu verhindern und dessen endgültige Zähmung sicherzustellen. Das, was die NATO im traditionellen strategischen Lager darstellt, ist in der Wirtschafts- und Finanzordnung die Schwächung des Euro, der das Europa nach dem Fall der Berliner Mauer symbolisiert und verkörpert. Und vielleicht sein Verschwinden. Wer in Europa mag eigentlich Europa?

Paradoxerweise ist gerade Deutschland trotz seiner ethischen und politischen Grenzen die europäischste aller Nationen. Das ehemalige Land der D-Mark ist heute der neue IWF des Euro. Nur Deutschland ist heute noch eine Wirtschaftsmacht — obwohl es oder vielleicht, weil es entwaffnet ist — und als solche fähig, ein Europa auf den Weg zu bringen, das die bösen Geister austreibt, die es eines Tages an den Rand des Abgrunds getrieben haben.

Nur Deutschland verfügt über die paradoxen Reize, die ihm eine vom Schicksal zugeteilte oder selbst aufgebaute politische Zentralität sichern können. Wer könnte besser die Ukraine und das große Russland konstruktiv in den europäischen Raum eingliedern? Und auch die Türkei, mit der Deutschland vertrauter ist als alle anderen Länder?

Voltaire statt Luther

Eigentlich hätten wir eher von der Heimat Voltaires und nicht vom Vaterland Luthers den Anstoß zu einem beispielhaften Europa erwartet, das sich früher so viele Herrscher teilten. Vielleicht stand Frankreich in Europa so viele Jahrhunderte allein, war als Nation ein Vorbild für so viele andere, rivalisierte mit England und wollte deshalb seine eigene europäische Transzendenz vermeiden. Als Kinder konkurrierender Geschichten und Kulturen fühlen weder Frankreich noch England die Notwendigkeit eines Europas. Es gibt schon genug davon.

Andere meinen, dass Europa das kleine, marginale — und marginalisierte — Süd- oder Osteuropa ist. Der Norden gehört einem Kontinent aus seit langer Zeit eingefrorenen Träumen an. Wenn man es genau betrachtet, dann gibt es eigentlich niemanden, für den Europa — das alte und das neue — eine Art Amerika ist. Außer für jene am Rand, die aus Europa früher — und heute aus Faszination und wegen der vielen Vorteile — das Amerika machen, das sie weder sind noch einstweilen zu sein scheinen können.

Vielleicht war es falsch, von einem Einheitseuropa zu träumen, das so anders ist als das Europa, das Jahrhunderte lang und auch heute noch etwas Wunderbares ist: benachbarte Nationen, die sich gegenseitig befeinden, aber ihren Reichtum aus ihren Unterschieden schöpfen. Nach dem absoluten Sieg der USA am Ende des Zweiten Weltkriegs strebten die Europäer, vor allem die besiegten Europäer, die Vereinigten Staaten von Europa an, das europäische Ideal par excellence.

Wir brauchen niemanden, der uns rettet

Die Vereinigten Staaten von Amerika waren jedoch, ob sie es wussten oder nicht, von Anfang an ein Anti-Europa. Oder ein Nicht-Europa. Und heute ein Super-Europa. Das heute das impotente Einheitseuropa so sieht, wie England die „Amerikaner“ sah, bevor sie es überhaupt waren.

Vielleicht braucht Europa keinen anderen historischen, politischen, ideologischen und, das ist wohl ein Pleonasmus, kulturellen Status, als den, auf dem seine multiple Realität beruht, die es schon immer geprägt hat. Hier ist die Wiege der Neuzeit und der Modernität der Welt. Das dürfen wir nie vergessen. Wir brauchen auch niemanden, der uns rettet. Wir müssen uns selbst retten. Das ist nicht wenig. Wir stehen nicht zum Verkauf.

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