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Wer macht das Rennen? Brown, Clegg oder Cameron ? Zapfhähne in einem Londoner Pub

Auf der Suche nach einem neuen Weg

Unsicherheiten haben sich mit der Krise breitgemacht. Eine übermäßig sentimentale und vor allem "gebrochene Gesellschaft" hat sie hervorgebracht. Egal wie die Wahl am 6. Mai ausgehen wird: Die Briten haben aus ihrer sozialen Not bereits politische Veränderungen gemacht. So sieht das ein polnischer Journalist.

Veröffentlicht am 6 Mai 2010 um 14:55
Wer macht das Rennen? Brown, Clegg oder Cameron ? Zapfhähne in einem Londoner Pub

Großbritannien: Das Land des liberalen Unternehmertums, in dem Europas Finanzherz – die Londoner City – schlägt. Rekordverdächtig viele Menschen sind hier richtig reich. Und nun geht es diesem Land richtig schlecht. Einige Stimmen beschreiben es sogar als ‘großen Kranken Europas’. Mit seinem Defizit von 180 Milliarden Pfund Sterling kann London sich jedenfalls nicht über das griechische Chaos aufregen. Dem Staat geht es alles andere als gut, den ordinären Menschen keinesfalls besser. Die Verschuldung der Haushalte ist hier doppelt so hoch wie in Frankreich.

Echte oder gefühlte soziale Rezession?

Zahlreiche Vereine prangern den Wiederanstieg von mit Messern verübten Angriffen, die zunehmende Trunkenheit bis zur Bewusstlosigkeit – vor allem bei Frauen –, sowie die wachsende Unsicherheit in den Schulen– gegen die Metalldetektoren am Eingang helfen sollen – an. Soziologische Studien zeigen, dass eine neue soziale Kategorie entstanden ist: Die NEET (Not in Education, Employment or Training, d. h. weder (aus)gebildet, noch arbeitend und auch nicht im Praktikum) – eine Kategorie, die weit davon entfernt ist, wieder von der Bildfläche zu verschwinden. Erlebt Großbritannien eine wahrhaftige "soziale Rezession"? Die seriöse Wochenzeitung The Economist hat dieses Phänomen kürzlich unter die Lupe genommen und mithilfe von Zahlen und Graphiken zeigen können, dass die Kriminalität ebenso abnimmt wie die Zahl minderjähriger Mütter (auch wenn es die höchste Zahl Europas ist). Auch Alkohol- und Drogenkonsum nehmen– wenn auch nur geringfügig – konstant ab. Dagegen hält die öffentliche Meinung an ihrem negativen Bild des Landes fest. Als die Labours 1997 an die Macht kamen, meinten 40 % der Briten, dass das Leben in ihrem Land immer unangenehmer sei. Mit Gordon Brown – noch vor der Krise – erreichte dieser Prozentsatz 73 %!

Schweiß und Tränen für die Zukunft

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Im vergangenen Jahr stürzte der Beliebtheitsgrad Browns so sehr in die Tiefe, dass klar wurde, dass die Konservativen, sollten sie jetzt nicht überzeugen können, niemals gewinnen würden. Jedoch hat sich ihr Chef David Cameron mit seiner 'broken society' (zerbrochenen Gesellschaft) selbst eine Falle gestellt: Auch wenn er den Zustand der Gesellschaft richtig diagnostiziert haben sollte, bleibt dennoch die Frage, ob die notwendigen Mittel zur Verfügung stehen, um ein ganzes Volk von dieser schweren Krankheit heilen zu können. Zumal es sich mitten in der Krise befindet. Schließlich kann man mit dem heutigen Rekorddefizit nur eines versprechen: Schweiß und Tränen. Man hat keine andere Wahl als die Haushaltsausgaben zu reduzieren (die politischen Parteien trauen sich nicht einmal mehr, dieses Thema anzusprechen) und die Steuern zu erhöhen (das soll heimlich, still und leise geschehen).

Sentimentale Gesellschaft

Dennoch schöpft der Wahlkampf auch aus zahlreichen anderen Gemütszuständen. Um diese zu entschlüsseln, sollte man mit der Erinnerung an die hysterische Reaktion der Mehrheit der Briten beginnen, welche der Tod von Prinzessin Diana 1997 ausgelöst hatte. Sie war die "Königin der Herzen". Das politische Establishment behandelte sie jedoch äußerst reserviert, und konnte bei ihr weder die gewünschte Klasse noch die notwendige Reife ausmachen, die eine zukünftige Königin einfach benötigt. So nahm die Regenbogenpresse dem Philosophieprofessor und Präsidenten des Königlichen Philosophieinstituts – Anthony O'Hear – die Veröffentlichung eines seines Essays – mit dem Titel "Die Sentimentalisierung der modernen Gesellschaft" – sehr übel. Der Autor ist der Überzeugung, dass die universelle Trauer ein Zeichen für eine tiefe und negative Einstellung des Landes und eine "unersättliche Lust am Sentimentalismus" steht, der den Menschen "die Augen für alle Aspekte der Realität unserer Existenz verschließt".

Was hat das mit den Wahlen von heute zu tun? Die Fernsehdebatten der wichtigsten Anwärter für den Posten des Regierungschefs haben in der Tat ein neues Element eingeführt: Die spontane Reaktion und der direkte Bezug auf Gefühle. Derartige Fernsehdebatten gab es vorher nicht. Zudem handelt es sich nicht allein um eine Kopie ausländischer politischer Modelle, sondern um etwas viel wichtigeres, welches das Wesen selbst des politischen Systems ausmacht.

Die Briten sind besessen von der Bildung einer effizienten Regierung. Sie haben so etwas wie eine ursprüngliche Angst vor dem, was man ein ‚hung parliament‘ nennt – ein wortwörtlich hängendes Parlament (in dem keine der Parteien eine absolute Mehrheit hat) –, aber auch vor Koalitionen, die sich als notwendig erweisen könnten. Nach britischer Tradition sollte die Regierung gegenüber den Wählern direkt verantwortlich sein. Im Falle einer Koalition ist es nicht so sehr das Volk, welches einer bestimmten politischen Gruppe die Macht anvertraut, sondern müssen sich die Parteien – ohne dass die Wähler dies noch kontrollieren könnten – untereinander verstehen und absprechen, erklärt George Jones, ehemaliger Professor für das politische System an der London School of Economics.

Das Ende der Zwei-Parteien-Politik

Was wir gegenwärtig erleben – dass eine dritte Partei, diejenige der Sozialdemokraten, so sehr zulegt – bedeutet eine große Veränderung des Systems. Wie lässt sich dieser Wandel erklären? Zum ersten Mal hat die Mehrheit der Briten ihren Anführer Nick Clegg in einer Fernsehdebatte gesehen. Früher war es in Großbritannien üblich so zu wählen, wie es die gesellschaftliche Klasse es vorschrieb. Die Menschen wählten wie ihre Parteien: War man arm, wählte man die Labours, wenn es einem an nichts fehlte, so stimmte man für die Konservativen. Heutzutage hat man diese Überlegungen über Bord geworfen. Die Menschen verschmelzen im so genannten Mittelstand, sind einheitlicher und sehen die Parteien nicht länger als klassenspaltende Elemente.

Schon im Vorfeld ist bekannt, dass das Mehrheitswahlrecht mit nur einem Wahlgang einen Nachteil für die Sozialdemokraten darstellt. Clegg könnte die Reform dieses Systems als eine der Bedingungen für seine Beteiligung an einer Koalitionsregierung stellen. Die Konservativen werden sich dem entgegenstellen. Die Labours werden zögern. Aber wie auch immer: Es scheint so als gehöre die Zwei-Parteien-Politik in Großbritannien nun wirklich der Vergangenheit an.

MEINUNG

Eine entscheidende Wahl

"Ein Tag der Allgemeinwahlen ist eine Feier der Demokratie", schreibt die Times auf ihrer Titelseite. "Und diese seltenen Wahltage (in den letzten dreißig Jahren gab es davon nur zwei), an denen ein Regierungswechsel möglich scheint, könnten ein Tag der Befreiung sein. Heute sieht es allerdings anders aus. Die Stimmung ist trüb. Und wir werden unser demokratisches Recht in dieser gedrückten Stimmung ausüben und auf ungewöhnliche Weise die Last der Verantwortung auf unseren Schultern spüren."

Denn wie die Tageszeitung bemerkt, ist an diesem 6. Mai 2010 "nicht mehr gegeben, dass Großbritannien weiterhin in der Lage sein wird, eine Großmacht zu bleiben, eine harmonische Gesellschaft oder wenigstens eine genug wohlhabende, um ihren Bürgern Freiheit und Recht garantieren zu können." Es geht also um das "Schicksal des Landes", titelt die Times über einer großen Zeichnung von Peter Brooks, die Gordon Brown dabei zeigt, wie er die katastrophale Wirtschaftskurve des Landes nach oben biegt. "Diese Wahlen legen das Bild Großbritanniens für die nächste Generation fest."

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