Viktor Orbán sucht seine Wurzeln in Asien

Die ungarische Regierung — in Europa für ihre autoritären Tendenzen geächtet — versucht sich in einer Politik der „Öffnung nach Osten“. Auf ihrer Suche nach Verbündeten im Orient gibt sie heute vor, die Ungarn seien Nachfahren zentralasiatischer Stämme. Noch so ein Mythos, der von den magyarischen Rechtsradikalen gepflegt wird.

Veröffentlicht am 16 August 2012 um 16:01

Europa, die Finanzmärkte und die Investoren hatten sich kaum an die wenig orthodoxe Wirtschaftspolitik der Regierung Victor Orbáns gewöhnt, da überrascht letztere sie mitten in der Sommerpause, zu einem Zeitpunkt, in dem selbst die Börsen Ferien zu machen scheinen, mit einer ungewöhnlichen Entscheidung: Man werde eine obskure Veranstaltung unterstützen, welche die Bande der ungarischen Nation mit den zentralasiatischen Stämmen im Sinne des Turanismus [einer Ideologie, welche die Einheit aller türkischsprachigen Stämme Zentralasiens anstrebt] stärken wolle. Eine Bewegung, die früher wie auch heute eng mit den Rechtsradikalen in Ungarn verbunden ist.

Einmal mehr Zündstoff für die ohnehin schon gespannten Beziehungen zwischen Budapest und dem Rest Europas.

Vom 10. bis 12. August nahmen in zentralungarischen Bugac, einem Örtchen mitten in der Puszta (der ungarischen Steppe) rund 250.000 Menschen am Kurultaj-Fest teil, einem Treffen zwischen Stämmen und Völkern, die sich zur turanischen Tradition bekennen. Zuerst wurde vermutet, die Turaner stammten aus dem Iran, dann aus der Türkei, bevor schließlich sich auch andere Völker Zentralasiens zu Nachfahren der Turaner erklärten. Doch heute sind sich die Experten einig, dass diese Theorie nichts weiter als ein moderner Mythos sei.

Ein Element faschistischer Ideologie

In Ungarn gewann der Turanismus — die Idee, dass die Ungarn von den Turaner abstammen — in den rechten Kreisen an Popularität, vor allem in der Zwischenkriegszeit. Ein Teil der ungarischen Elite versuchte so ihre Komplexe nach dem Vertrag von Trianon zu überwinden, mit dem Ungarn zwei Drittel seines Territoriums und ein Drittel seiner Bevölkerung abgeben musste.

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Gefährlicher noch als der Turán I — der einzige ungarische Panzer des Zweiten Weltkriegs, in Lizenz von Škoda gebaut — war der Turanismus ein Element der Ideologie der ungarischen Faschisten unter der Führung von Ferenc Szálasi. Die heutigen Mitglieder und Anhänger der rechtsextremistischen Jobbik-Partei, die sich unter anderem durch ihre Offenheit gegenüber antisemitischen Thesen auszeichnet, berufen sich auf das direkte Erbe Szálasis. Mit etwas Zynismus und Ironie könnte man die These wagen, dass die Jobbik die anti-israelischen Deklarationen der iranischen Führung nicht nur aus Überzeugung unterstützt, sondern auch, weil sie glaubt, dass die Ungarn und Iraner gemeinsame Vorfahren haben.

„Die Wurzeln der ungarischen Nation wiederfinden“

In diesem Jahr ist das Kurultaj-Fest von Bugas, das bis dahin vor allem mit der Jobbik in Verbindung gebracht wurde, nun zum ersten Mal zu einer halb offiziellen Veranstaltung avanciert. Nach Berichten der Nachrichtenagentur MIT hätte der Fraktionschef der Jobbik (und derzeit stellvertretende Vizepräsident des Auswärtigen Ausschusses im Parlament) Márton Gyöngyösi auf einer Pressekonferenz am vergangenen Wochenende betont, dass es notwendig sei, die Wurzeln der ungarischen Nation im Osten zu suchen, und dass die finno-ugrische Theorie eine Lüge sei, die „Ungarns Feinde in die Köpfe der Menschen bringen wollen“.

Gyöngyösi begrüßte die offizielle Regierungspolitik der „Öffnung nach Osten“. Für Budapest allerdings ist die Suche nach Verbündeten in Asien in Wirklichkeit ein Versuch, sich aus der diplomatischen Isolation in Europa zu befreien. Ein entstaubter Turanismus kommt da gerade recht.

Sándor Leszák, Vizepräsident der Fidesz [der Regierungspartei Victor Orbáns] hat Stammeschefs im Parlament empfangen, und die Regierung hat den Organisatoren der Veranstaltung 70 Millionen Forint [etwa 250.000 Euro] zugesichert. Am vergangenen Wochenende konnte man also alte Herrschaften im Trachtenkostüm auf den Jugendstilbänken des Parlaments bewundern und vielerlei Kämpfen und Falkner-Vorführungen beiwohnen.

Den Rechtsradikalen immer näher

Aber vielleicht war das Ereignis letztlich doch nicht ganz so verwunderlich. Die regierungsfreundliche Tageszeitung Magyar Nemzet interviewte beispielsweise einen Uiguren, der nach Deutschland emigriert ist. Für ihn stehe die (mythische) Evokation gemeinsamer Wurzeln in engem Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Unterdrückung durch die Chinesen im Uigurischen Autonomen Gebiet. Er danke seinen „ungarischen Brüdern“, ihn an die Kultur und Gebräuche seines Volkes erinnert zu haben.

Nach der jüngsten „Rehabilitierung“ von Miklós Horty — dem Diktator in der Zeit zwischen den Weltkriegen, nach welchem heute wieder Straßen benannt werden — und nach der internationalen Kritik am wachsenden Antisemitismus im Land, lässt das gemeinsame Ausschlachten der Turanismus-Mythologie durch Regierung und Faschisten darauf schließen, dass Viktor Orbán und seine Partei der Jobbik doch näher stehen, als die Europäer bisher vermuteten. (js)

Rechtsextremismus

Ein EU-Abgeordneter entdeckt seine jüdische Herkunft

Noch vor einigen Monaten war Csanad Szegedi, 30, der bekannteste und einflussreichste Politiker der rechtsextremen Jobbik-Partei, berichtet Il Post.

Er war vor allem für seine antisemitischen Parolen bekannt, mit denen er den Juden vorwarf „das ungarische Land zu kaufen“, die wichtigsten politischen Posten zu beanspruchen und die nationalen Symbole zu entweihen.

Doch im vergangenen Juni nahm seine Karriere eine unerwartete Wendung. Nach wachsenden Gerüchten im Internet, gab Szegedi zu, dass seine Großeltern mütterlicherseits Juden waren. Auf Druck der Parteiführung der Jobbik gab er alle Parteiämter sowie seine Mitgliedschaft auf, doch weigerte er sich, sein Mandat im Europaparlament abzugeben. Die Jobbik erklärte, Szegedi sei nicht wegen seiner Herkunft kaltgestellt worden, sondern weil er versucht habe die Sache 2010 mit einem Bestechungsversuch zu verschleiern. In der Zwischenzeit, schreibt Il Post, habe Szegedi den orthodoxen Rabbi Schlomo Koves getroffen und erklärt, er wolle Auschwitz besuchen, „als Zeichen des Respekts“.

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