Iphigenie, Jonas und die Opferung Griechenlands

Während Ministerpräsident Antonis Samaras durch Europa tourt, um für eine Lockerung der Kreditkonditionen zu werben, greift der Journalist Nikos Konstandaras tief in die Mythen-Kiste: Der Euro kann nicht gerettet werden, indem man Griechenland ins Meer wirft.

Veröffentlicht am 21 August 2012 um 16:18

Zahlreiche Politiker, Ökonomen und Beobachter haben das mögliche Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone (vielleicht gar aus der EU) angesprochen, so dass diese Frage über jeder Diskussion über die Zukunft unseres Landes schwebt.

Die Gespräche, die Antonis Samaras diese Woche mit Angela Merkel, François Hollande und Jean-Claude Juncker führen wird, werden da auch keine Ausnahme machen, auch wenn kein direkter Bezug auf die „Opferung“ Griechenlands genommen wird. Es lohnt sich jedoch herauszufinden, wie die verschiedenen Seiten den Austritt unseres Landes aus der Eurozone und die möglichen Auswirkungen sehen.

Offensichtlich besteht, wie auch bei vielen anderen Themen, zwischen den Griechen und den „harten“ Gläubigern – in erster Linie irgendwelchen deutschen Politikern und Wirtschaftsakteuren – ein kultureller Unterschied in dieser Frage.

Die Griechen sprechen von der Opferung der Iphigenie, einer Tat, die es ermöglicht, dass ihre Partner sich selbst retten, wobei sie allerdings ihre Zukunft auf einem Unrecht errichten. Die „Ausländer“ aber scheinen Griechenland so zu sehen, wie die Besatzung und die Mitreisenden Jonas sahen, bevor sie die Entscheidung trafen, ihn ins Meer zu werfen, um sich so vor einem fürchterlichen Sturm zu retten.

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Sinn für Tragödie gegen Pragmatismus

Wir Griechen neigen dazu, das tragische Ausmaß der Ereignisse innerhalb eines unveränderlichen Verhaltensschemas zu sehen. Der Sinn der Opferung entspricht dem Opfer des Unschuldigen zugunsten von vielen: Das Opfer hat über seine Existenz hinaus keinerlei Beteiligung oder Verantwortung.

Unsere calvinistischen Partner jedoch behandeln die gemeinsamen Bemühungen als Ergebnis des Beitrags eines jeden Mitgliedsstaats: Die Rollen sind nicht festgelegt, wie in der Welt der Tragödie, sondern werden anhand der persönlichen Leistung jedes Einzelnen bewertet. In unserer Welt ist derjenige Opfer, der aus irgendeinem Grund, über seine Verantwortung hinaus, vernichtet wird, im Dienst der dunklen Interessen der anderen; für die Pragmatiker unter unseren Partnern wird jeder Einzelne nach seiner Leistung für die Gesamtheit beurteilt.

Was aber ist das Ergebnis der Opferung der Iphigenie, des Jonas, und was wird einem möglichen Ausscheiden aus der Eurozone und anderen europäischen Institutionen folgen? Die Opferung der Iphigenie ist zum Symbol des Unrechts und der Härte von vielen geworden: Durch sie wurde beim Feldzug gegen Troja unschuldiges Blut vergossen, und der Heerführer wurde nach seiner Rückkehr zum Tode verurteilt.

Das Abenteuer Jonas’, der gerettet wurde, als Gott einen Walfisch schickte, um ihn zu verschlucken und ihn nach drei Tagen an Land zu bringen, symbolisiert die Allmacht Gottes (der Juden, Christen und Muslime) und die Schwäche der Menschen, sich Seinem Willen zu entziehen (wie es Jonas versucht hat, indem er aus einer Mission flüchtete, die ihm aufgetragen worden war).

Monster, Propheten, Besatzung und der Wal

Es gibt zwei Versionen über das Ende der Iphigenie: Die eine besagt, dass sie auf dem Altar starb, die andere, dass sie in letzter Minute durch göttlichen Eingriff an einen fremden Ort, Tauris, gebracht wurde, wo sie unter Barbaren lebte. Dies alles, mehr oder weniger, erwartet uns, wenn wir aus dem Euro ausscheiden.

Für uns weist die Geschichte von Jonas leider darauf hin, dass man ihn zu Recht über Bord geworfen hat: Plötzlich herrschte Meeresstille, die anderen wurden gerettet, und Gott hat schließlich den nicht bereitwilligen Propheten am Leben erhalten, um Seinen Plänen zu dienen. Vielleicht haben all diejenigen, die sagen, dass sie einen Austritt Griechenlands aus der Eurozone nicht fürchten, dies im Kopf, in dem Glauben, dass so plötzlich die Krise beendet und alles gut sein wird.

Mythen beeinflussen unsere Ansichten, und die Vereinfachung hilft uns oft, die komplexen Probleme unserer Zeit mit anderen Augen zu sehen – aber nur solange wir auch die Unterschiede zur Realität wahrnehmen. Heute müssen alle den Preis eines eventuellen Austritts Griechenlands aus der Eurozone berücksichtigen – den Preis für Griechenland wie auch für seine Partner und Kreditgeber. Solange wir jammern, dass wir die Opfer sind – neue Iphigenien –, werden wir die Verantwortung nicht übernehmen, unsere Opferung zu vermeiden.

Diejenigen, die davon träumen, Griechenland „über Bord zu werfen“, müssen wissen, dass sie keinem göttlichen Willen dienen, dass die Krise nicht beendet sein wird, dass alle Welt wissen wird, dass auf diesem Boot Menschen geopfert werden. Es werden sich viele Walfische ansammeln, nicht um einen auf Abwege geratenen Propheten zu retten, sondern um noch mehr Besatzungsmitglieder zu verschlingen. Bis alles verloren sein wird.

Diplomatie

Antonis Samaras Kreuzweg

Bei Ministerpräsident Antonis Samaras stehen diese Woche zahlreiche diplomatische Aktivitäten auf dem Terminplan: Am 22. August trifft er sich in Athen mit dem Eurogruppen-Vorsitzenden Jean-Claude Juncker, am 24. reist er zu einem Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel nach Berlin, und am Tag darauf erwartet ihn der französische Präsident François Hollande in Paris. Diese Serie von Treffen mit dem Ziel, eine Lockerung des von Griechenland verlangten Sparplans zu erzielen, steht laut To Vima unter einem schlechten Vorzeichen:

Nicht ein Tag vergeht ohne eine Moralpredigt eines deutschen Entscheidungsträgers […] ohne einen erneuten Hinweis darauf, dass der Weg aus der Eurozone offen steht, solange wir unseren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. […]

Sehen und verstehen sie eigentlich nicht, dass diese kontinuierlich aggressive Haltung Griechenland nicht nur nicht hilft, sondern darüber hinaus ein von sozialen und politischen Spannungen geprägtes Klima unterhält, das die Probleme weiter verschlimmert, anstatt sie zu lösen? Die europäischen Staats- und Regierungschefs – und allen voran die Deutschen – müssen sich bewusst werden, dass ein Zusammenbruch des Euro-Systems nicht nur für die südeuropäischen Länder schmerzlich wäre, sondern auch für den reichen Norden…

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