Wie stehen Sie zu Europa?

Auf der Internetseite der Europäischen Komission können EU-Bürgern ihre Meinung äußern, von der Regulierung der Finanzmärke bis zu Kontrollrichtlinien für Obst und Gemüse. Auch über die EU im Jahr 2020 kann man hier Vermutungen anstellen. Ein rumänischer Journalist findet allerdings, dass nicht alle Meinungen immer aufschlussreich sind.

Veröffentlicht am 10 September 2012 um 15:12

Wenn mir die europäischen Themen ausgehen, begebe ich mich einfach in das Dickicht des Internetportals der Europäischen Kommission. Dort finde ich schnell ein neues Thema, über das es sich zu berichten lohnt. Insbesondere in der Rubrik „Ihre Stimme in Europa“.

Derzeit gibt es hier beispielsweise 36 verschiedene Themen, die darauf warten, von uns – also den etwa 500 Millionen Bürgern der EU-Mitgliedsstaaten – kommentiert zu werden. Hier findet jeder von uns alles Mögliche: Von der Regelung für den Sektor Obst und Gemüse, über die Frage, ob EU-Bürger geklonte Tiere essen sollten oder nicht, bis hin zur Zukunft der Wirtschaftsbeziehungen zu den USA.

Man kann aber auch viel allgemeinere Themen kommentieren, beispielsweise die Frage, ob Autobahnen kostenpflichtig sein sollten oder nicht.

Diesen [Meinungs-]Bereich der Internetseite gibt es noch nicht allzu lange. Er ist das Ergebnis der jahrelang geäußerten kritischen Stimmen, die von allen Seiten Demokratiedefizite, mangelnde Befragung der Bevölkerung und ungenügende Bürgerbeteiligung im verworrenen Brüsseler Entscheidungsfindungsprozess anprangerten.

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Mitbestimmung bis ins Detail

Die Initiative als solche verfolgt aber durchaus ernsthafte Ziele. In vielen der gemachten Vorschläge geht es ganz unmittelbar um die finanzielle Situation bestimmter Industriezweige oder Wirtschaftsbereiche. Dabei können wir davon ausgehen, dass unsere [rumänischen] Landsmänner sich weniger für das Vorhaben zur Regulierung von Hedgefonds interessieren als für einen möglichen Kurswechsel der Union im Bereich der Obst- und Gemüseproduktion. (Zumindest sollten sie sich dafür mehr interessieren.)

Die Lektüre des Ganzen empfehle ich Ihnen wärmstens. (Zumindest sollten Sie einmal querlesen.) Sie finden ganz sicher mindestens ein Thema, zu dem Sie sich ganz gern einmal äußern würden.

Eines der Themen, die mich wirklich überrascht haben, ist die Zukunft der Europäischen Staatsbürgerschaft. Gewissenhaft kämpfe ich mich von einem Link zum anderen bis hin zur entsprechenden Rubrik durch. Dort fängt plötzlich eine Frau an zu reden. Ich weiß nicht, wer sie ist und kann auch nirgends Informationen dazu finden.

Dann aber wird mir klar, dass diese Frau wohl Viviane Reding sein muss, die als EU-Justizkommissarin nicht nur für Grundrechte sondern auch für die Bürgerschaft zuständig ist. Ich überprüfe das. Blond, Brille. Das muss sie sein. Sie erzählt mir, dass der Begriff des „Europäischen Bürgers“ vor zwanzig Jahren in Maastricht in das weltweite politische System eingeführt wurde.

EU-Staatsbürgerkunde online

Dieses Individuum (also der Europäische Bürger) hat bestimmte Rechte. Natürlich nicht allzu viele. Er hat das Recht, sich in irgendeinem Mitgliedsstaat niederzulassen und irgendeine der 27 konsularischen Dienststellen aufzusuchen, wenn er sich in einem Land außerhalb der EU befindet.

Er darf sich an EU-Parlamentswahlen beteiligen und sich selbst dazu aufstellen lassen. Und er darf Petitionen an dieselbe Organisation richten. Das ist auch fast schon alles.

Wie aber macht die Kommission [den Bürgern] das Thema verständlich, zu dem sie sich äußern sollen, also die Zukunft der Union? Ganz einfach: Um alle irgendwie zu erreichen, greift sie auf Beispiele aus dem alltäglichen Leben zurück: Online-gekaufte Produkte, der Umzug von einem Land in ein anderes, die Zulassung eines Fahrzeuges in einem anderen EU-Land. Alles in allem also „kleine Probleme, die große politische Programme brauchen“.

Und dann die letzte Frage, die Schlüsselfrage dieser Befragung, das Herzstück des ganzen Vorhabens: „In welcher Europäischen Union würden Sie im Jahr 2020 gerne leben?“

Gegenwärtig, im Jahr 2012, wollen deutsche und dänische EU-Bürger den griechischen EU-Bürgern nicht (mehr) helfen. Wollen sie den Italienern helfen? Vielleicht. Der französische EU-Bürger wünscht sich, dass Eurobonds geschaffen werden, die möglicherweise den spanischen EU-Bürgern helfen könnten. Allerdings ist da auch noch der britische EU-Bürger (entschuldigen Sie bitte die Verbindung dieser beiden Begriffe), der über den Ärmelkanal ruft, dass das ganz ausgeschlossen ist.

Der niederländische EU-Bürger würde seine Blumen, Knollen und Geräte gern auf einem Markt verkaufen, auf dem es so liberal wie nur möglich zugeht. Andersherum ist er aber keineswegs willens, den bulgarischen und rumänischen Bürgern den freien Zugang zum Schengen-Raum zu gewähren.

Was all die Treffen der 27 EU-Länder – also ihrer Staats- und Regierungschefs – seit mehreren Jahren und genaugenommen seit Beginn der Krise gebracht haben? Man taufte sie „Rat“ und ihre Ergebnisse gehen gegen Null. Keinerlei konkrete Maßnahmen und noch weniger wichtige Entscheidungen. Das einzig Nennenswerte: Zahlreiche Versprechen, die Versprechen später einzulösen.

Folglich lautet meine einzige Antwort auf die vielversprechende Frage von Frau Reding etwa so: „2020? Vor allem Gesundheit. Für alle... [Ganz nach dem Motto:] Gesundheit gut, alles gut.“

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