Der Traum vom Wohlstand ist ausgeträumt

Seit Beginn der Krise beschreiben die Polen ihr Land als „grüne Insel“ des Wohlstands mitten im Meer der Rezession. Doch die Aussichten für die kommenden Jahre sind nicht so rosig und das Land muss ein alternatives Entwicklungsmodell ausarbeiten.

Veröffentlicht am 25 September 2012 um 11:05

Die Zahlen für das Wachstum des polnischen Bruttoinlandprodukts lassen keine Zweifel aufkommen: Die Verlangsamung hat eingesetzt. Das Wirtschaftswachstum existiert zwar noch, aber in einem weitaus schleppenderen Tempo. Im zweiten Quartal sank es auf 2,4 Prozent, im ersten Quartal waren es noch 3,5 Prozent. „Die Wachstumszahlen für das BIP lagen weit unter den Erwartungen“, erklärt Maja Goettig, Chefökonomin bei KBC Securities in Warschau und Mitglied im Wirtschaftsrat des Ministerpräsidenten.

Warum sollte man sich Sorgen machen, werden manche fragen, wenn die Wirtschaft doch weiter wächst. Das stimmt zwar, doch die Wirtschaft eines Schwellenlands folgt anderen Regeln als die eines Industriestaats. Für Polen bedeutet eine Wachstumsrate unter vier Prozent dasselbe wie eine Rezession für Deutschland. Wenn das Wachstum nachlässt, dann nimmt die Arbeitslosigkeit zu und der Mangel an Arbeitsplätzen, nicht die BIP-Zahlen, sind das akuteste Zeichen für einen Konjunkturrückgang. „Die Arbeitslosenquote fiel im Juli auf 12,3 Prozent, doch das war ein rein saisonbedingter Effekt. Am Ende des Jahres könnte sie durchaus 13,5 Prozent erreichen“, meint Goettig.

Das Finanzministerium hat vor kurzem 500 Millionen Zloty [rund 120 Millionen Euro] für die Ankurbelung des Arbeitsmarkts locker gemacht, doch die Gestaltung des nächstjährigen Haushalts bleibt optimistisch: Minister Jacek Rostowski erwartet offiziell ein Jahreswirtschaftswachstum von 2,2 Prozent und eine Arbeitslosenquote unter der 13-Prozent-Grenze. Der Haken daran ist, dass Rostowski keinen dieser Indikatoren kontrollieren kann. Die Wirtschaftsexperten sind sich allgemein einig, dass seine Mutmaßungen unrealistisch sind.

„Rostowski kann nur raten, wie alle anderen auch, weil er keine Ahnung hat, wie lange die Rezession in der Eurozone dauern und wie tief sie sein wird. Wenn das Wachstum auf 2,2 Prozent sinkt, dann steigt die Arbeitslosigkeit auf 15 bis 16 Prozent“, erklärt Piotr Kuczyński, Chefökonom bei Dom Inwestycyjny Xelion.

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Kaum Konjunkturpuffer

Der gegenwärtige EU-Haushalt geht bald zu Ende und der nächste, für 2014 bis 2020, wird Polen gegenüber wahrscheinlich weniger großzügig sein. Neue EU-unterstützte Projekte werden nicht vor 2015 starten können. Vor drei Jahren hatte Polen das Glück, dass seine Wachstumsverlangsamung mit einem Hoch an EU-Subventionen zusammenfiel. Nach Angaben des Finanzministeriums in Warschau wird der Beitrag der EU zum polnischen Wachstum im Jahr 2013 nicht mehr als 0,5 Prozentpunkte betragen.

Auch den zweiten „Puffer“ von vor drei Jahren – eine beispiellose fiskale Expansion – wird es diesmal nicht geben. Als die globale Rezession 2009 auch Polen traf und die Steuereinnahmen plötzlich stark abfielen, kürzte die Regierung nicht die Ausgaben, sondern riskierte eine Erhöhung des Staatsdefizits auf 7,4 Prozent des BIP, um das anämische Wachstum zu schützen. Doch statt einer Erholung gab es daraufhin einen erneuten Konjunkturrückgang.

Nur der dritte „Schutzschild“ bleibt noch übrig, nämlich der frei schwebende Wechselkurs. 2009 wurde der Zloty aufgrund der Kapitalabwanderung um mehr als 30 Prozent abgewertet und förderte schnell Polens Wettbewerbsfähigkeit im Export. Es gibt praktisch keine Puffer außer dem Zloty und das einzige Instrument, das kurzfristig eingesetzt werden kann, um die Wirtschaft anzukurbeln, wird von der Zentralbank und nicht von der Exekutive kontrolliert. Der Vorsitzende der polnischen Nationalbank, Marek Belka, hat klar gestellt, dass Zinssenkungen zu erwarten sind.

Die Regierung ihrerseits ist kaum in der Lage, das Wachstum in großem Stil anzuregen. Es geht nicht nur um das Geld: Der Finanzminister ist vor allem an seine eigenen Versprechen gebunden. Er hat sich der EU-Kommission gegenüber verpflichtet, Polens Haushaltsdefizit 2013 auf 2,2 Prozent des BIP zu reduzieren. Wenn er dieses Ziel jetzt aufgibt, dann ist dies das Signal für die Finanzmärkte, um mit dem Abstoßen der polnischen Anleihen zu beginnen. Dann nehmen die Schuldentilgungskosten zu, und der ganze Haushalt wird zum Trümmerhaufen. Ob sie will oder nicht, die Regierung ist dazu gezwungen, den Gürtel enger zu schnallen: die gefürchtete „Sparpolitik“, mit der Spanien, Portugal oder Griechenland bereits vertraut sind. Diese Haushaltsdisziplin wird den Konjunkturrückgang unweigerlich verlängern.

Komplizierte neue Märkte

Wie beabsichtigt Polen, mit seinem Wachstum wieder auf die Schnellspur zu kommen? Wie soll es den Mindestsatz von vier Prozent Wachstum jährlich erreichen, unter welchem die Arbeitslosigkeit steigt und der Haushalt nicht mehr ausgewogen ist?

Nach 23 Jahren Marktwirtschaft kann sich Polen für sein Wachstum nicht mehr auf simple Wettbewerbsvorteile und auf das Aufholen mit den Industrieländern verlassen. Die Löhne in Polen nehmen konstant zu und früher oder später werden wir nicht mehr als Niedrigkostenland konkurrenzfähig sein. Kluge Leute sagen, Polen sollte eigene Produktionsstandorte entwickeln, weil der Produktivitätsgewinn und das Wachstumspotential in der Warenherstellung am höchsten sind. Polen sollte die Sektoren identifizieren, in denen polnische Unternehmen Erfolg haben, und sie systematisch unterstützen. Es muss damit begonnen werden, Geld für Innovationen auszugeben. Mit anderen Worten, wir müssen anfangen, ein Schiff zu bauen, anstatt darauf zu warten, dass die Insel wieder grün wird.

Gleichzeitig müssen neue Märkte anvisiert werden, nicht unbedingt im Fernen Osten, sondern vielmehr hinter unserer Ostgrenzen. „Russland ist gerade der Welthandelsorganisation beigetreten, die Ukraine und Weißrussland sind große Märkte, an welchen polnische Produkte einen guten Ruf haben. Der florierende Grenzhandel ist dafür der beste Beweis“, berichtet Kuczyński.

Nun führt Polen aber gegenüber den drei Ländern, die sein größter Absatzmarkt sein könnten, eine wertebasierte Politik, die sich bis jetzt kaum als effizient erwies. Für Westeuropa ist Polen nach wie vor ein Subunternehmer oder ein Standort, an den man seine Produktion auslagert. Doch für Osteuropa ist es die nächstgelegene moderne Wirtschaftsmacht, die auch kulturell mehr Ähnlichkeiten aufweist als Deutschland oder die Niederlande. Ohne Expansion in den Osten wird Polen eine Verminderung der Exporte in die Eurozone nicht ausgleichen können. (pl-m)

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