Die hemmungslosen Diplomaten


Damit Europa auch auf der internationale Szene Ohr findet, sollten seine Politiker einen direkteren und unverblümteren Ton anschlagen. Eine Reihe ungestümer junger Außenminister wie Radoslaw Sikorski aus Polen oder Alexander Stubb aus Finnland scheinen es sich in den Kopf gesetzt zu haben, das diplomatische Image des Alten Kontinents gründlich aufzupolieren.

Veröffentlicht am 28 September 2012 um 11:51

„Ihre Interessen liegen in Europa. Es ist an der Zeit, dass auch Ihre Herzen für Europa schlagen“, sagte der polnische Außenminister letzten Freitag seinen britischen Zuhörern. Solche freimütigen Äußerungen mögen in diplomatischen Ohren befremdend klingen, aber Radislaw Sikorski ist kein Diplomat der alten Schule.

Sikorski hat sich in Oxford kein Blatt vor den Mund genommen. Er monierte, Großbritannien sollte eine stärkere EU unterstützen, wenn es nicht in die Isolation gedrängt werden will.

Auch im November 2011 nahm er in Berlin kein Blatt vor den Mund, als er den Deutschen an den Kopf warf, dass sie nicht das unschuldigen Opfer der Verschwendungssucht der anderen wären, sondern selbst schon mehrmals gegen den Wachstums- und Stabilitätspakt verstoßen hätten. Deutsche Banken hätten zudem unkontrolliert Kredite vergeben und hoch riskante Anleihen gekauft. Ihm ist auch der berühmte Spruch zu verdanken: „Deutsche Macht fürchte ich heute weniger als deutsche Untätigkeit“. Direkt und unmissverständlich.

Sikorski ist kein typischer europäischer Außenminister, aber auch nicht der einzige, der diesen neuen Stil praktiziert. Carl Bildt, der umstrittene schwedische Außenminister, hält sich auch nicht mit seiner Meinung zurück und scheut Auseinandersetzungen nicht. Seine Erklärungen schockierten viele, zum Beispiel als er den russischen Eingriff in Südossetien mit dem Anschluss der Sudeten durch die Nazis verglich oder die Israelis als Gefahr bezeichnete.

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Englischsprachiges Umfeld ohne diplomatischen Background

Abgesehen von den Kontroversen haben Sikorski und Bildt im Rat für Auswärtige Angelegenheiten, der alle Außenminister der EU-Mitgliedsstaaten umfasst, die gleiche direkte, unmissverständliche Ausdrucksweise wie der junge finnischen Minister Alexander Stubb, der regelmäßig Artikel verfasst, bloggt und tweetet und aktiv an den finnischen und europäischen politischen Debatten teilnimmt (so setzt er sich zum Beispiel für die Aufnahme Finnlands in die NATO ein, obwohl die Mehrheit in Finnland dagegen ist). Und wie der bulgarische Außenminister Nikolai Mladenov, der vor allem im Nahen Osten agiert.

Diese freimütigen und relativ jungen Minister, die in einem englischsprachigen Umfeld ohne diplomatischen Background ausgebildet wurden und auf Dolmetscher verzichten, um besser zu kommunizieren, prägen die neue europäische Außenpolitik. Mit forschen Reden, reger Aktivität in sozialen Netzwerken, Allianzen vor den Sitzungen und intensiven Kontakten zu Think Tanks und Meinungsmachern suchen sie die Unterstützung der EU-Institutionen, ohne jedoch Konfrontationen zu scheuen.

Ihr Einfluss auf die Außenpolitik der EU ist größer als man in Bezug auf das Gewicht ihrer Länder annehmen könnte. Gleichzeitig, und darum geht es hier, gießen sie Wasser auf ihre Mühlen.

Die polnische Strategie ist beispielhaft, nicht nur wegen der aktiven Rolle, die der Minister im Ausland spielt. Im Rahmen seiner EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2011 unterstützte Warschau verstärkt polnische Zentren für internationale Beziehungen und subventionierte Dutzende von Veranstaltungen in der gesamten Union mit dem Ziel, die polnischen Prioritäten in den Mittelpunkt der Diskussionen in Brüssel und den übrigen europäischen Hauptstädten zu stellen.

Den drei Großen Paroli bieten

Polen setzt auf die Analysekompetenzen seines Außenministeriums, das bereits fünf Mal mehr Mitarbeiter zählt als Spanien und im nächsten Jahr die Belegschaft sogar noch verdoppeln will. Ideen, Vorschläge und die Teilnahme an europäischen Überlegungen, die über zwischenstaatliche Verhandlungen hinausgehen, stehen im Mittelpunkt der Warschauer Taktik.

Die aktuelle Krise unterstreicht die wachsende gegenseitige Abhängigkeit der EU-Mitgliedsstaaten. Wenn sie sich so behandeln, wie es früher in diplomatischen Kreisen Usus war, und sich bei Verhandlungen so verhalten, als ob sie an klassischen internationalen Besprechungen teilnehmen würden, werden sie keine Ergebnisse erzielen.

Die Diplomatensprache, die heute in Europa triumphiert, die einzige, die sich angesichts der jüngsten Ereignisse behaupten und den großen Drei (Deutschland, Frankreich und Großbritannien) Paroli bieten kann, ist nicht auf die diplomatischen Kreise ein Brüssel, auf Gipfeltreffen und Botschaften beschränkt. Sie kennzeichnet ein unverblümter Stil, der die Konfrontation der Ideen nicht scheut und die Diplomatie nicht als Austausch der in den Hauptstädten bereits festgeschriebenen Interessen versteht. Die europäische Außenpolitik verwandelt sich in eine gemeinsame Analyse, in deren Rahmen Meinungen gebildet und Positionen bezogen werden.

Es genügt nicht mehr, die eigene Ansicht vorzutragen und dann darüber zu verhandeln. Die wesentlichen Aufgaben der Außenminister bestehen heute darin, Ideen vor Regierungen, Medien, Analysten und Bürgern der übrigen Staaten, in Zusammenarbeit mit anderen Diplomaten, Akteuren der Zivilgesellschaft, Ökonomen und Pressevertretern in einem europäischen Meinungsraum zu entwerfen und zu begründen. Diejenigen, die das so gut wie Polen verstanden haben, gestalten die neue Außenpolitik der EU.

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