Die Geheimnisse der Festung Europa

Die Europäische Union scheint versuchen zu wollen, mit allen Mitteln ihre Grenzen zu sichern, bespielsweise mit dem Programm Eurosur oder einem Plan zur biometrischen Datenspeicherung. Doch Ziele, Effizienz und Kosten bleiben dabei im Dunkeln, schreibt De Groene Amsterdammer.

Veröffentlicht am 4 Oktober 2012 um 10:32

„Es gibt keine Alternative“, sagte Franco Frattini, EU-Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit vor vier Jahren im Europäischen Parlament. Da Kriminelle technologisch überlegen wären, kündigte er zwei Pläne an. Beim ersten handelte es sich um die permanente Überwachung der Außengrenzen, auch mittels unbemannter Flugzeuge, um Migranten aufzuspüren. Beim zweiten Vorschlag um die Einführung von „Smart Borders“, anders gesagt, um die biometrische Erfassung von allen, die in Europa einreisen oder den Kontinent verlassen.

Über den ersten Plan, Eurosur [European Border Surveillance System], der am 1. Oktober 2013 starten soll, wird derzeit im Europäischen Parlament beraten. „Die Mitgliedsstaaten müssen eine gemeinsame Einrichtung schaffen, welche die gesamten Aktivitäten der Grenzüberwachung europaweit koordiniert, von Polizei über Zoll bis zur Marine“, erklärt Erik Berglund, der für den Kapazitätenausbau von Frontex, dem europäischen Grenzschutz mit Sitz in Warschau, verantwortlich ist. „Bis dato beruht der Austausch von Informationen auf freiwilliger Basis“. Das Ziel von Eurosur sei dreifach, sagt Berglund: „Illegale Einwanderer aufspüren, internationale Kriminalität bekämpfen und Bootsflüchtlinge retten“.

Laut Hilfsorganisationen sei der letzte Punkt vor allem ein Verkaufsargument. „Eurosur hilft vielleicht beim Aufspüren von Flüchtlingsbooten“, sagt Stephan Kesser vom Jesuit Refugee Service in Brüssel, „aber ist gibt noch keine Prozedur, um klarzustellen, wer die Menschen retten muss, und wo diese Asyl beantragen dürfen. Im vergangenen Jahr haben Malta und Italien fünf Tage lang über ein Boot diskutiert, das auf offener See umherirrte.“

Niemand kontrolliert

Glaubt man den Autoren des Berichts „Borderline“ der Heinrich-Böll-Stiftung, so steht Eurosur technologisch und organisatorisch auf unsicheren Füßen. „Die einzigen, die untersucht haben, wie das System funktioniert sind Frontex und die Technologie-Anbieter“, sagt auch Mathias Vermeulen. Er ist Koautor des Berichts und Experte für internationales Recht am European University Institute Florenz. „Niemand kontrolliert, und nach Angaben der EU-Kommission soll das ganze bis 2020 nur 340 Millionen Euro Kosten. Wir werden aber auf das zwei- oder dreifache kommen.“

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Es wurde bereits so viel Geld in Eurosur gesteckt, dass der Zug nicht mehr zu stoppen ist, meint Vermeulen. Bei Vorschlag „Smart Borders“, der bei der Kommission liegt, sei das aber noch nicht der Fall. Der Sprecher will sich zwar noch nicht dazu äußern, doch sei bereits bekannt, dass es ein sogenanntes Entry Exit System und ein Frequent Travellers Programme beinhalten wird. Alle Daten von nicht-europäischen Reisenden sollen gespeichert werden: Einreisedatum, Adressen von eventuellen Kontaktpersonen in der EU, biometrische Daten wie Fingerabdrücke und ein digitales Foto. Bei der Ausreise wird die Person erneut gescannt. So kann das System erkennen, wer illegal im Land verweilt.

Potenzielle Verbrecher

Europa zählt pro Jahr 100 bis 150 Millionen Besucher. Darum ist der Biometrie-Experte Max Snijder skeptisch: „Wir haben keine Erfahrung mit dieser Art von großen Systemen. Wir meldet man, dass jemand gestorben ist? Und wenn jemand nicht mehr auftaucht, was dann? Dabei können alle diese Flugzeuge und Küstenpatrouillen nicht helfen. Und wer bekommt Zugang zu den Daten?“

Der Begriff „Smart Borders“ sei taktisch gut gewählt, meint Vermeulen. „Nun sieht es aus, als hätten wir die Wahl zwischen cleveren und dummen Grenzen, und da wollen wir natürlich die cleveren.“ Doch die Datenspeicherung ist für Vermeulen ein grundsätzliches Problem: „Nach europäischem Recht muss es einen guten Grund geben, um die körperlichen Merkmale einer Person abzuspeichern. Dieser Plan behandelt jeden Reisenden wie einen potenziellen Verbrecher. Dabei können zum

Beispiel Personen, die nicht pünktlich ausreisen, ganz einfach im Krankenhaus sein.“

Nach Ansicht der Kommission soll es sich schlicht um eine Migrationsstatistik und Kartierung handeln. In diesem Fall eine sehr kostenspielige Statistik: Die Einführung der „Smart Borders“ kostet 450 Millionen Euro und die Betriebskosten liegen bei 190 Millionen Euro jährlich. Das Schengener Informationssystem, ein weiteres IT-Großprojekt der EU, wurde am Ende fünfmal teuer als geplant.

Amerikanische Erfahrungen geben Anlass zur Zurückhaltung. Eine Studie aus dem Jahr 2008 belegt, dass mit biometrischen Kontrollen bei der Einreise rund 1300 unerwünschte Besucher entdeckt wurden. Die Ausgaben lagen bei 1,5 Milliarden Dollar. Sind eine Million Dollar pro Fall kosteneffektiv? Und im Fall der Secure Border Initiative, um die Grenzen zu Mexiko und Kanada zu überwachen, wurden 3,7 Milliarden Dollar gesteckt. Bis 2010. Danach wurde der Geldhahn abgedreht. Technisch kompliziert und nicht kosteneffektiv, urteilte das Government Accountability Office der amerikanische Rechnungshof. Eine derartige unabhängige Stelle zur Steuerung von großen IT-Projekten gibt es auf EU-Ebene leider nicht.

Überwachungsgesellschaft

Das Europäische Parlament steht also vor vollendeten Tatsachen. Es befasst sich am 10. Oktober mit einer Reihe von Änderungsvorschlagen, aber inhaltlich wird nicht viel verändert werden. Die Technologie bestimmt den Kurs. Nicht nur Frontex oder die Kommission, sondern auch die Mitgliedsstaaten oder Parlamentarier sagen sich schlicht: Mehr ist besser.

„Grenzüberwachung ist eine schwer fassbare, allgegenwärtige Maschine, die Menschen permanent aufteilt in erwünscht und unerwünscht“, sagt Huub Dijstelbloem, Autor des Buchs „Die Migrationsmachine“. „Aber was das Endziel eigentlich sein soll, bleibt unausgesprochen. Das hat auch mit dem Mangel an Klarheit darüber zu tun, welche politische Einheit Europa eigentlich ist. Die technologische Logik, der man derzeit folgt, ist aus demokratischer Sicht sehr unzulänglich, derweil die Auswirkungen enorm sind. Wir bewegen uns von der Festung Europa in Richtung Überwachungsgesellschaft.“

Debatte

Immigration ist auch ein Business

„Heute dienen die Grenzen dazu, finanzielle und ideologische Gewinne zu erzielen“, meint Claire Rodier in einem Interview mit der französischen Tageszeitung Libération. Die Rechtsexpertin der Migranten-Hilfsorganisation GISTI hat jüngst ein Buch über die Steuerung der Migrationströme durch die Staaten veröffentlicht: „Xenophobie Business“. Sie meint:

Jede neue Kontrollmaßnahme scheint nur den Zweck zu haben, die Mängel und Fehler der vorhergegangen aufzuzeigen und weitere zu rechtfertigen. Der europäische Grenzschutz Frontex zeigt dies Paradox auf. In den vergangenen Jahren wurde sein Etat um das Fünfzehnfache erhöht. ... Es wäre interessant, eine Gesamtbewertung über die Kosten der Inhaftierung von Migranten zu erstellen, was einen bedeutenden Anteil der „Sicherheits-Economy“ darstellt. Neben Infrastrukturen und Personal müssen auch Kosten für juristischen, medizinischen und psychosozialen Beistand dazugerechnet werden. Oder die Eskorten, welche die Abgeschobenen begleiten — noch ein sehr lukratives Geschäft für bestimmte Sicherheitsfirmen. Eine Bilanz, die es verdient, an die Öffentlichkeit zu kommen.

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