Europas Verfassung für das 21. Jahrhundert

EU-Politiker arbeiten derzeit emsig an einem neuen Projekt für die Gemeinschaft. Wenn sie aber die Erfahrung der zurückgewiesenen Verfassung im Jahr 2005 nicht wiederholen wollen, sollten sie sich am südafrikanische Modell nach Abschaffung der Apartheid orientieren, schreiben zwei Professoren.

Veröffentlicht am 5 Oktober 2012 um 15:28

Ein Gespenst spukt durch Europa. Aufgrund der Erinnerungen an die nationalen Volksbefragungen von 2005, in welchen die EU-Verfassung abgelehnt wurde, reagieren die führenden Politiker heute auf die Krise mit Notmaßnahmen, die keine Zustimmung seitens der Bevölkerung erfordern. Doch langfristigere Lösungen verlangen eine demokratische Legitimierung.

Kommissionspräsident José Manuel Barroso ging so weit, zu einem Bund von Nationalstaaten aufzurufen. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle und zehn seiner Kollegen schlugen vor kurzem grundlegende Reformen vor, die zu einem Europa mit zwei Geschwindigkeiten führen könnten: Sofern eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedsstaaten dem neuen Vertrag zustimmt, würde sie sich sogar dann dazu verpflichten, wenn die anderen Staaten nicht mitziehen. Derart radikale Änderungen können nicht ohne die Einwilligung der Bevölkerung erreicht werden.

Direkte Demokratie ist eine riskante Sache. Europa sollte nicht die organisatorischen Fehler wiederholen, die zum Debakel von 2005 beitrugen. Die verfassungsgebende Versammlung produzierte damals einen 350 Seiten langen Text im Juristenjargon, mit dem die herkömmlichen Wähler nichts anfangen konnten. Schlimmer noch: Es wurde nichts Außergewöhnliches getan, um die Bürger zur ernsthaften Erörterung der bevorstehenden schicksalsschweren Entscheidung zu ermutigen. Kein Wunder, dass in den nationalen Debatten weitgehend das zeitweilige politische Geplänkel vorherrschte.

Drei-Stufen-Experiment

Diesmal sollte Europa in der Verfassungsgebung dem Beispiel von Südafrikas Drei-Stufen-Experiment folgen. In dessen erster Stufe versuchten die Teilnehmer einfach, eine Erklärung mit Grundprinzipien auszuarbeiten. Erst später folgte dann ein langer, juristisch formulierter Text, der die neuen gesellschaftlichen Grundlagen durchkonstruierte. Und letztlich musste das südafrikanische Verfassungsgericht bestätigen, dass die juristische Langform auch wirklich mit den ursprünglichen Grundsätzen übereinstimmte.

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Um diese Abfolge auf europäische Verhältnisse umzumünzen, sollte das Projekt nach den aktuellen Verträgen nun eine Versammlung vorsehen, in der die Vertreter der nationalen Parlamente und des europäischen Parlaments, der Staats- und Regierungschefs und der EU-Kommission tagen. Diese Körperschaft würde sich darauf konzentrieren, leicht verständliche Grundsätze für die Verfassung auszuformulieren – die dann von einer Regierungskonferenz revidiert werden könnten.

Diese Erklärung würde zum Beispiel die breiten Befugnisse der Union darlegen, nicht aber eine detaillierte Aufzählung ihrer Kompetenzen; sie würde Grundsätze für die Repräsentanz in europäischen Gremien festsetzen, aber nicht deren Abstimmungsregeln. Infolge des jüngsten Vorschlags der Außenminister würde sie auch festlegen, wie viele EU-Mitgliedsstaaten ihre Zustimmung geben müssen, bevor der Endvertrag für die zustimmenden Parteien bindend ist.

Die erste Stufe endet dann damit, dass jeder Mitgliedsstaat die Grundsatzerklärung annimmt oder ablehnt – entsprechend seinen verfassungsrechtlichen Bestimmungen entweder durch ein Referendum oder im Parlament. Die Prägnanz der Grundsätze ist besonders wichtig für Länder, die den Weg der direkten Demokratie wählen werden, wie Frankreich (mit Sicherheit) und Deutschland (wahrscheinlich).

Nationalistische Gegner können dann nicht mehr über einen undurchschaubaren Vertrag lästern, der Teil einer breiten eurokratischen Verschwörung sei. Die Wähler werden vor klar ausgedrückten Entscheidungen stehen. Darauf können sie dann mit Ja oder mit Nein antworten, dürften jedoch der populistischen Demagogie gegenüber weniger anfällig sein. Durch die Fokussierung auf die Grundsätze werden die Länder auch leichter über die Notwendigkeit debattieren können, ihre nationalen Verfassungen abzuändern (wie in Deutschland durchaus möglich).

Gericht als Garant

Im Fall einer Volksbefragung können die Bürger auch gleich die Landesvertreter wählen, die im Gremium der zweiten Stufe das Enddokument ausarbeiten. Gegnerische Kandidaten werden dabei hinsichtlich der Grundsatzerklärungen unterschiedliche Positionen einnehmen und durch ihre Debatten den Wählern die durch das Referendum aufkommenden Grundfragen näherbringen. Stimmen die Bürger mit Ja, wird die Bestimmung der Abgeordneten durch die Bevölkerung eine weitere demokratische Verbindung zum Enddokument herstellen, das somit eine noch bessere Legitimität erhält.

Es steht der Versammlung der zweiten Stufe nicht frei, den Wählerauftrag zu missbrauchen und von den Grundsatzprinzipien abzuweichen. Statt dessen muss sie das von ihr redigierte Produkt einem besonderen Gericht vorlegen, das seine Konformität garantiert. Der Präsident des Europäischen Gerichtshofs sollte einem Gericht vorstehen, zu welchem jeder Mitgliedsstaat den vorsitzenden Richter seines höchsten Gerichts entsendet.

Dieses Gericht würde also die Übereinstimmung des Endtexts mit den von den Wählern bestimmten Grundsatzprinzipien garantieren. Diese endgültige juristische Überprüfung dürfte dem neuen Verfassungsvertrag genügend Legitimation verleihen, damit er ohne eine weitere Ratifizierungsrunde der Mitgliedsstaaten in Kraft treten kann. Sie vermindert auch das Risiko zukünftiger rechtlicher Anfechtungen gegen die neu aufgebaute EU vor nationalen Gerichten.

Europa steht vor einer historischen Entscheidung. Die führenden Politiker können keinen erfolgreichen Ausgang garantieren. Doch sie tragen die hohe Verantwortung für die Konzipierung eines Systems, das die Schlüsselfragen so stellt, dass eine fruchtbare, bewusste demokratische Entscheidung getroffen werden kann. Unser Drei-Stufen-Ablauf könnte innerhalb eines vernünftigen Zeitraums zu einem Abschluss kommen und eine starke demokratische Grundlage für eine Union bieten, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gewachsen ist.

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