Völker Europas, unterschreibt!

Wie kann man sicherstellen, dass der Wille des EU-Volks auch in den Brüsseler Institutionen ankommt? Während Volksentscheide heute allgemein als zu riskant gelten, gibt es seit einigen Monaten ein neues Instrument: die Petition.

Veröffentlicht am 10 Oktober 2012 um 10:10

Es ist unsere neue Marotte. Wir haben uns ins demokratische Europa verschossen. Im Geiste der Gründerväter sind wir aufgewachsen: Nichts geht über eine aufgeklärte Elite, um die europäische Integration voranzutreiben. Italiens Ministerpräsident Mario Monti wies erst jüngst darauf hin. Hätten nur fünf Jahre nach Kriegsende die Völker darüber zu entscheiden gehabt, einen gemeinsamen Markt für Stahl und Kohle zu schaffen, dann wären die Gründerväter Jean Monnet und Konrad Adenauer nicht weit gekommen. Um alle Waffenhändler einer Behörde unterzuordnen, brauchte man einen revolutionären Geist, aber bitte diskret.

Das „Nein“ der Völker bei den Volksentscheidungen zur EU hat gezeigt: Die Methode funktioniert nicht mehr. Eine neue Form der Demokratie muss erfunden werden. Wir haben das Instrument entdeckt, welches der Vertrag von Lissabon den Menschen bietet. Seit dem 1. April ist die Petition die neue Waffe der Völker. Sieben Bürger aus sieben Ländern und die Maschine kann angeschmissen werden.

Man hat dann ein Jahr, um eine Million Unterschriften zu sammeln, mit einem Minimum pro Land: 74.250 in Deutschland, 55.000 in Frankreich oder 4500 in Malta. Zu guter Letzt wird die EU-Kommission die Petitionäre empfangen müssen. Schlimmstenfalls wird sie sie höflich anhören, bestenfalls wird sie aus dem Ersuch einen Gesetzestext formulieren.

Aber Vorsicht! Nicht zu früh anfangen. Greenpeace hatte eine Petition gestartet und 1,2 Millionen Unterschriften gesammelt, um GVOs in Europa verbieten zu lassen. Das Dossier wurde Ende 2010 eingereicht — und abgelehnt. Aber immerhin hat der Fall die Kommission dazu bewegt, die Vorschriften endlich publik zu machen: Der Startschuss war am vergangenen 1. April.

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Krieg der Lobbys

Europa beruht auf Recht und Gesetzt, die Freiheit wird geregelt: Brüssel akzeptiert nur Petitionen für Fälle, die in den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union (EU) fallen. Eine Reihe sympathischer Aktionen wurden deshalb abgelehnt: Tierschützer wollen den Stierkampf verbieten? Keine Zuständigkeit der Kommission, das Wohl der Tiere wird von der Gemeinsamen Agrarpolitik bestimmt, grausame Spektakel sind da nicht vorgesehen.

Ein Mindesteinkommen in ganz Europa? Unmöglich: Die Union ist nicht befugt, die Sozialpolitik der Länder zu bestimmen. Umweltschützer wollen den Atomausstieg? Leider, so antwortet die Kommission, wird die Atomkraft von einem spezifischen Abkommen bestimmt, Euratom. Der Österreicher Klaus Kastenhofer, der den Antrag eingereicht hat, ließ sich davon aber nicht entmutigen und reichte einen zweiten nach, der auf einer anderen Rechtsgrundlage basiert: Dem Verbraucher- und Umweltschutz. Und wartet noch auf Brüssels Antwort.

Es besteht das Risiko, dass es über Petition und Gegenpetition zum Krieg der Lobbys kommt. So protestieren Umweltschützer gegen Atomkraft, Föderalisten fordern die Direktwahl des EU-Präsidenten und Katholiken bekämpfen die Embryonenforschung, um nur ein paar der aktuellen Initiativen zu nennen.

Syllogismen

Na toll! Aber seien wir nicht zu anspruchsvoll. Diese Manöver können europaweite Debatten hervorrufen, und die Beamten in Brüssel dazu bringen, sich mit Fragen auseinander zusetzen, die für sie kein Thema mehr sind. Europa funktioniert mit Sperrfunktion: Ist ein Gesetz erst einmal verabschiedet, kann niemand es wieder rückgängig machen.

Wie bei der Vogelschutz-Richtlinie von 1979, welche die Jäger liebend gerne abschießen würden. Zu den vernünftigen Initiativen gehört jene, die fordert das Energie- und Klimapaket von 2009 vorübergehend auszusetzen, da die Regelung den Alten Kontinent bestrafe. Es müssten sich auch China, Indien und die USA verpflichten. Warum eigentlich nicht?

Der Weg der Petition scheint auf alle Fälle aussichtsreicher als die Konsultation der nationalen Parlamente, welche ebenfalls mit dem Vertrag von Lissabon eingeführt wurde.

Europa kennt heute einen Präzedenzfall: Die Kommission hat einen Gesetzentwurf über das Streikrecht der sogenannten „entsendeten Mitarbeiter“ — im Volksmund „polnischen Klempner“ — zurückgezogen. Sie hatte aus zwölf Ländern die gelbe Karte bekommen. Der Plan war eh eine Totgeburt: zu sozial für die Liberalen, zu liberal für die Sozis. Die Episode hat vor allem eines deutlich gemacht: Das soziale Europa ist blockiert.

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