”Hoffnung“ - „Nein“

Obama oder Romney? — Jacke wie Hose.

Der Ton im US-Wahlkampf mag zwar scharf sein. Aber ob der amtierende Präsident oder sein Gegner siegt, ist für die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen zur „Old World“ ziemlich egal, meint der US-Korrespondent der italienischen Tageszeitung Il Sole 24 Ore.

Veröffentlicht am 5 November 2012 um 16:21
”Hoffnung“ - „Nein“

Morgen wählen die Amerikaner, quasi noch begleitet von einer Provokation des Kandidaten Mitt Romney zu Europa, die in letzter Minute von ihm kam. „Italien, Spanien und Griechenland“ sind das Obama-Modell, Sinnbild des sozialen und fiskalen Irrsinns in Europa.

Europa-Bashing? Ob bei einem Sieg Romneys Europa wohl zu einem der großen „strategischen“ Themen wird, über das dann in den nächsten Monaten diskutiert wird? Und bei einem Sieg Obamas? Ist er für oder gegen Europa? War es nicht er, der sich als „erster pazifischer Präsident“ definiert hat, was einer Wende im transatlantischen Dialog gleichkommt? Wie wird sich eine etwaige zweite Amtszeit Obamas gestalten? Wird seine erste Auslandsreise wiederum nach Asien gehen, wird er Europa somit in den Hintergrund verbannen?

Berechtigte Fragen. Doch bei Europa, in den Wahlkampfdebatten zunächst ignoriert, dann von Romney wiederausgegraben und schließlich heftig kritisiert, muss zwischen Wahlkampf-Phrasendrescherei, großen Trends und tatsächlichen Fakten unterschieden werden.

Zahlen schlagen Rhetorik

Bei Betrachtung der Zahlen wird deutlich: Die Verflechtungen zwischen Europa und den USA sind so stark und so vielschichtig, dass eine solche Polemik als absurd betrachtet werden muss. Die gegenseitigen Direktinvestitionen zwischen USA und Europäischer Union sind um vieles höher als jene Chinas und Japans zusammen; der Handelsaustausch ist 2011 auf 636 Milliarden Dollar gestiegen [fast 500 Milliarden Euro], was einem Plus von 14 Prozent gleichkommt, und die Wirtschaft der beiden Blöcke generiert einen Umsatz von 5 Billionen Dollar, was Arbeit für 15 Millionen Menschen bedeutet; beide Forschungs- und Entwicklungsbereiche zusammen machen 65 Prozent der globalen F&E aus.

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Die transatlantische Wirtschaft macht 54 Prozent der weltweiten Produktion und 40 Prozent der Kaufkraft aus; bei einer Beseitigung von 50 Prozent der Handelshemmnisse könnte der Handelsaustausch um 200 Milliarden Dollar steigen. Ganz zu schweigen vom äußerst soliden Atlantikpakt [der NATO], einem der größten Bündnisse der Geschichte.

Beginnen wir also, mit Romney abzurechnen: Seine Phrasendrescherei ist irritierend, weil instrumentalisierend. Doch sie ist vorübergehend, ideologisch, auf die US-Wahlen zugeschnitten. Auch weil der republikanische Kandidat in Europa investiert hat, auch in Italien aktiv wurde, und immer beträchtliche Gewinne erzielt hat. Ein Sieg Romneys wäre auch Sieg des Pragmatismus über die Rhetorik.

Politisch gesehen wird Romney in Amerika nicht viel anders machen als Obama. Auch weil die Fed [Federal Reserve, US-Notenbank], Hauptakteur der bilateralen Beziehungen zur Bewältigung der Finanzkrise, in der Hand Ben Bernankes bleiben wird, im Zeichen der Kontinuität und der Koordinierung.

Amerikas berechtigte Kritik an Europa

Und Obama? Ja, anfangs hat er den Pazifikraum vor Europa gestellt. Doch er verstand auch fast sofort, dass die großen geopolitischen Probleme, von der Stabilität des Mittelmeerraums bis hin zu den wirtschaftlichen Problemen, auf der anderen Seite des Atlantiks entschieden werden – dort, wo Amerika seine primären ethnischen, ideologischen und kulturellen Wurzeln hat. Worauf der Präsident rasch einen anderen Ton anschlug.

Eine andere Sache ist der große gegenwärtige Trend: Es stimmt, die großen Kontinentalwirtschaften, nämlich China und Amerika, sind im Begriff, uns [d. i. Europa] zu überholen. Doch es liegt an uns, Schritt zu halten, einheitliche Strukturen, wie sie etwa beim G-20-Gipfel in Los Cabos geplant wurden, umzusetzen, weiter an „föderalen“ Institutionen zu arbeiten, eine Deregulierung durchzusetzen, starre Strukturen zu beseitigen. Denn trifft es uns einerseits, wenn Europa in den Präsidentschaftsdebatten ignoriert wird, dürfen wir andererseits auch nicht beleidigt sein, wenn, kommt es doch zur Sprache, Kritik laut wird.

Ein Funken Wahrheit ist in den extremen Wahlaussagen Romneys und Obamas schon enthalten, wenn Europa vorgeworfen wird, bei der Lösung der Wirtschaftskrise nicht schnell genug vorzugehen: Der Staat spielt in unseren Wirtschaftssystemen eine zu bedeutende Rolle, und unser Wettbewerbsmodell kann es nur schwer mit der weltweiten Konkurrenz aufnehmen. Auch das sind Fakten – Fakten, die zu berücksichtigen sind, ganz unabhängig von den mehr oder weniger aggressiven und unattraktiven Instrumentalisierungen Romneys und Obamas vor oder nach den Wahlen.

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