Die Bewahrung des europäischen Wunders

Wer durch Europas ehemalige Blutländer reist, begreift was das europäische Projekt unserem Kontinent gebracht hat. Wollen wir wirklich verhindern, dass die Demokratie erneut untergeht, so müssen wir den Bürger zurück ins Zentrum der Politik holen.

Veröffentlicht am 13 November 2012 um 12:55

Diesen Sommer sind wir durch den östlichen Teil der EU gereist: Zunächst von Vilnius nach Białystok, dann entlang der weißrussischen und der ukrainischen Grenze. Wir bewunderten die herrlichen Plätze der ostslowakischen Kleinstädte und reisten weiter nach Rumänien.

Es war überwältigend: Viele der Städte und Regionen die wir durchfuhren, hatte ich vor etwa zwanzig Jahren bereist, kurz nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Was ich nun sah, war ein soziales, wirtschaftliches und politisches Wunder. Die Veränderungen lassen sich nur mit den westeuropäischen Rekordjahren zwischen 1945 und 1970 vergleichen. Während der Wiederaufschwung in Westeuropa aber von den USA abhängig war, hat Osteuropa seine Genesung vor allem der Kraft und Energie der EU zu verdanken.

Während unserer Reise berichteten Paris, Brüssel und Berlin über ein neues Euro-Krisen-Treffen nach dem anderen. An warmen Sommerabenden, die wir beispielsweise auf dem Platz von Prešov verbrachten, schien die Krise aber nicht nur ganz weit weg, sondern auch einer ganz anderen Logik zu folgen. So als müsste ich bis in die geographisch entlegensten Randgebiete der Union reisen, um das Bild als Ganzes wahrnehmen zu können.

Im Dunkeln

Europa tappt so sehr im Dunkeln, dass es sich selbst im Wege steht. Wer versteht schon, in welche Richtung sich die Politik bewegt? Welches Ziel die EU anvisiert? Alle wichtigen politischen Weichenstellungen und Entscheidungen fallen hinter verschlossenen Türen. Die Eurokrise führt zwangsläufig dazu, dass auch Europa und die Demokratie in Frage gestellt werden.

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Wie kann man bei all dem nicht an die Zeit vor dem Kriegsausbruch von 1914 denken? Niemand hat damals den Sinn dieses Krieges verstanden. Niemand hat ihn gewollt. Und doch ist es niemandem gelungen, vom Geltungsstreben seiner Nation abzulassen, um das Ansehen derselben zu bewahren. Einem ähnlichen Muster folgt auch das Spiel um den Euro. Wenn das EU-Parlament und die EU-Kommission einen Vorschlag machen, der auf einer gemeinsamen Verantwortung der Staaten aufbaut – beispielsweise die Eurobonds – sägen die Staatsoberhaupte ihn jedes Mal ab. Privilegierte Länder wie Deutschland, Finnland und Schweden kümmern sich nur um ihre eigenen Interessen und betrügen sich dabei vor allem selbst. Dadurch steuern sie den ganzen Kontinent – und sich selbst – auf den Abgrund zu.

Unsere Sommerreise entwickelte sich zu einer europäischen Wallfahrt. Wir erkundeten die Umgebung der Großregion, die der Historiker Timothy Snyder Europas „Blutländer“ [„Bloodlands“] oder „Mordfelder“ [„killing fields“] nennt: Das geographische Zentrum nationalsozialistischer und kommunistischer Genozide, die zwischen 1933 und 1944 zwölf Millionen Menschenopfer forderten.

Projekt der Angst

Unsere Reise wurde zu einem Mahnmal, das uns daran erinnerte, dass das europäische Projekt nicht ein Produkt naiver Euphorie war, sondern aus Angst geboren wurde: die Angst vor dem, was dieser Kontinent getan hatte. Wenn man Touristen in Prag, Krakau und anderen Städten scharenweise in leere Synagogen strömen sieht, so begreift man, dass ein – auf historischem Ernst gründendes – europäisches Selbstbewusstsein eine immer konkretere Form annimmt. In Auschwitz wird man Europäer.

Zwei Jahrzehnte lang schon quält die EU eine ganz offensichtliche Legitimitätskrise. Seit Dänemark 1992 den Vertrag von Maastricht abgelehnt hat, sorgte allein der Gedanke an Veränderungen dafür, dass immer neue Referenden gefordert wurden. [Und 2005] brachten das französische „Non“ und das niederländische „Nee“ [zur EU-Verfassung] das ganze Gefüge aus dem Gleichgewicht.

Von jeher betrachten die politischen Spitzen die Forderungen nach Volksabstimmungen als Fluch, anstatt sie als Durchbruch für das europäische Projekt anzusehen. Schlussendlich ging und geht es den Menschen in Europa darum, in wichtigen und gemeinschaftlichen Angelegenheiten ein Mitspracherecht zu haben. Ihr Engagement zeigt, dass die politischen Diskussionen in Europa... europäisch geworden sind.

Warum halten Politiker die grundlegenden Prinzipien der Demokratie auf nationaler Ebene scheinbar für selbstverständlich, während sie sie auf europäischer Ebene gefährden? Ihr Hauptargument ist, dass das europäische Volk im politischen und öffentlichen Raum noch keine wirkliche Gemeinschaft ist, noch keine sogenannte demos. Dabei ist Demokratie ohne demos doch nur ein Hirngespinst.

Eurokrise und Demokratie

In einem Artikel, der diesen Sommer erschien, formulierte der schwedische Sozialdemokrat Carl Tham sein Argument wie folgt: „Eine lebendige, demokratische und politische Union kann nur dann geschaffen werden, wenn das europäische Volk ein wirklich starkes Zugehörigkeitsgefühl und gegenseitige Solidarität entwickelt, und wenn die Menschen sich selbst als ein Teil des europäischen Volkes begreifen und den politischen Institutionen vertrauen.“

Aber baut dieses überaus gängige Fazit nicht vielmehr auf einem Missverständnis auf? Dass ein solch „starkes Zugehörigkeitsgefühl und gegenseitige Solidarität“ in den einzelnen Nationalstaaten existiert haben soll, als es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu bahnbrechenden demokratischen Veränderungen kam, ist höchst zweifelhaft. „Vertrauen in die politischen Institutionen“ gab es ganz sicher nicht, und auch keinen weit verbreiteten politischen und öffentlichen Raum.

Vor etwa einem Jahr begann man, über die Täuschungsmanöver der Intellektuellen zu diskutieren: Wo waren sie, als das europäische Projekt kurz vor dem Zusammenbruch stand? Viele der Beiträge zu dieser Debatte wurden auf der imponierenden Website Eurozine veröffentlicht. In Wirklichkeit ist es aber viel besorgniserregender, dass Europas Politiker weder offene Debatten führen, noch klare Standpunkte vertreten.

Gerade deshalb war es im Frühling so erhebend, Gerhard Schröders Artikel in der New York Times zu lesen: Ein einflussreicher Politiker stellte einen Zusammenhang zwischen der Eurokrise und der Demokratie-Frage her. Schröder fasste das Ganze in einigen Punkten zusammen: Aus der EU-Kommission muss eine Regierung werden, die vom EU-Parlament gewählt wird. Der Europäische Rat der Staats- und Regierungschefs muss Macht abgeben und in eine Art zweite Kammer umgewandelt werden, die in etwa die Aufgaben des deutschen Bundesrats übernimmt.

Man muss nicht mit allen Vorschlägen Schröders einverstanden sein. Gleichwohl weist er einen Weg zu einer möglichen europäischen Demokratie. Natürlich kann man dies als Versuch verurteilen, Demokratie „von oben“ durchzusetzen, aber man kann es auch einfach als Anerkennung all der Herausforderung verstehen, welche die Bürger Europas in den vergangenen zwanzig Jahren meistern mussten.

Treten, damit die Lichter leuchten

Der Platz in Krakau ist einer der prachtvollsten auf dem ganzen Kontinent. Im Glockenturm der Kathedrale erinnert ein Mann mit einer Trompete daran, wie die Zeit verstreicht. Geschichte wirft lange Schatten. Von hier aus kann man Europa besonders gut beobachten und über das politische Wunder, neuen Wohlstand und zivilisierte Demokratie nachdenken.

Als die Diktaturen im Osten zusammenbrachen, befürchteten viele Westeuropäer ein heilloses Durcheinander. Damit lagen sie falsch. Die Menschen erwiesen sich als vernünftig. Das sollte doch Hoffnung und Vertrauen wecken.

Nur dreißig Autominuten von diesem Platz entfernt befindet sich eines der wichtigsten Mahnmale, das an die Angst vor Europas dunkler Seite erinnert, auf der das europäische Projekt aufbaut: Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau.

Demokratie muss stets weiterentwickelt werden. Gewöhnt man sich erst einmal an ihre Bequemlichkeit, verkümmert sie nach und nach. Im Herbst 1940, als Europa eine seiner dunkelsten Zeiten durchmachte, verglich die schwedische Feministin Elin Wägner Wunschbilder mit Fahrradlichtern: Sie leuchten nicht auf, solange man nicht vorwärts tritt.

Will man den sozialdemokratischen Auftrag im Herbst 2012 Europa in ein paar Worten zusammenfassen, bietet sich Wägners Metapher und folgende zwei Worte an: Demokratisieren und politisieren. (jh)

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