Alle Filter überwunden? Einbürgerungszeremonie in der Präfektur von Macon (Burgund).

Ganzer Bürger, halber Bürger

Der Vorschlag des französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, Straftätern ausländischer Herkunft die Staatsbürgerschaft zu entziehen, hat eine heftige Debatte entfacht. Während die Regierungen der Union versuchen, ihr nationales Recht einer sich ständig verändernden Situation anzupassen, sei es an der EU einen europaweiten Status für Zuwanderer zu schaffen, um die Unzulänglichkeiten des derzeitigen Systems zu beheben.

Veröffentlicht am 2 August 2010 um 14:17
Alle Filter überwunden? Einbürgerungszeremonie in der Präfektur von Macon (Burgund).

Nach heftigen Unruhen zwischen Jugendlichen ausländischer Herkunft und der Polizei hat Nicolas Sarkozy vor ein paar Tagen angekündigt, das Einbürgerungsrecht zu verschärfen. Der französische Präsident hat gefordert, dass jeder Person ausländischer Herkunft, die einen Vertreter der öffentlichen Ordnung angreift, die Staatsbürgerschaft entzogen werden soll.

Diese Deklaration rief heftigen Prostest hervor. Das französische (ebenso wie das britische) Recht sieht unter gewissen Umständen den Entzug der Staatsbürgerschaft vor. Doch wird von dieser Möglichkeit de facto kein Gebrauch gemacht. In den letzten zehn Jahren hat sich Frankreich zudem mit einem "soften" Umgang in der Frage der Staatsbürgerschaft ausgezeichnet. Eine Million Menschen sind eingebürgert worden, fast so viele wie in Deutschland und zehnmal mehr als in Italien.

Staatsbürgerschaft mit neuen Kriterien und einer Reihe von "Filtern"

Ausbürgerung ist natürlich eine delikate Frage, aus juristischer und mehr noch aus politisch-ethischer Hinsicht. Sie soll und muss aber in einem größeren Rahmen untersucht werden, einem Rahmen, der es ermöglicht, die Leitlinien einer seriösen "Staatsbürgerschaftspolitik" im neuen europäischen Kontext neu zu definieren. Die Einbürgerung von "Ausländern" war traditionell entweder am ius sanguinis, der Blutsverwandtschaft gebunden — anders gesagt, einer der Eltern oder Vorfahren war bereits Staatsbürger des jeweiligen Landes (das ist der Fall in Deutschland) — oder am ius soli, dem Geburtsortsortprinzip (wie es beispielsweise die USA praktizieren).

Doch sind nach zwanzig Jahren massiver Immigration diese Kriterien nicht mehr zu halten. Welchen Sinn macht es, jemandem aufgrund des "Abstammungsrechts" die Staatsbürgerschaft zu gewähren, wenn dieser im Ausland geboren wurde, dort lebt und keinerlei Beziehungen zum Mutterland unterhält? Und warum einem Auslandsgeborenen, der seit Jahren im Land lebt und dort integriert ist die Staatsbürgerschaft verweigern (oder ihn jahrelang warten lassen)? Eine ernsthafte Staatsbürgerschaftspolitik muss auf neuen Kriterien beruhen: der Wohnort und eine Reihe von "Filtern", die es erlauben, die ernstgemeinte Absicht des Bittstellers als auch dessen Integration (Schulbesuch, regelmäßige Arbeit, Sprachkenntnisse...) zu prüfen.

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EU braucht "Quasi-Staatsbürgerschaft" in Stufen

Die Einbürgerung kann nicht mehr nur ein "punktueller" Übergang sein, eine irreversible, automatische Veränderung des Status, beruhend auf sehr allgemeinen Kriterien. Es sollte stattdessen ein durch Anreize beschleunigter Prozess werden, insbesondere für Minderjährige. Die zweite Verhaltensregel betrifft die Definition selbst der Staatsbürgerschaft. Hier erscheint es auch angebracht, von der einfachen Alternative — Staatsbürger oder Ausländer — Abstand zu gewinnen und eine intermediäre Form der "Quasi-Staatsbürgerschaft" anzubieten. Die zugesprochenen Rechte könnten mit den Ursprungsländern abgesprochen werden — vor allem in Sozialversicherungsfragen — und somit eine temporäre Zuwanderung erleichtern (nehmen wir als Beispiel einen indischen Arzt der sechs Monate pro Jahr in einem europäischen Krankenhaus arbeiten möchte).

Die Länder des Commonwealth haben für diese Form der Quasi-Staatsbürgerschaft den Term denizenship geschaffen. Die Einführung der Unionsbürgerschaft könnte dabei schon eine Art denizenship sein, handelt es sich doch dabei um einen Status, der jedem Bewohner eines EU-Lands gewisse Rechte einräumt, die er überall innerhalb der EU geltend machen kann. Derzeit ist die Unionsbürgerschaft noch eine "Staatsbürgerschaft zweiter Klasse". Doch nichts hindert daran, vor allem nach dem Lissabon-Vertrag, diesen Status für Nicht-Europäer, die bestimmte Kriterien erfüllen, als Zwischenstufe auf dem Weg zur Einbürgerung in ein EU-Land zu nutzen.

Risiko heikler Radikalisierung eindämmen

In einem solchen Rahmen hätte die von Nicolas Sarkozy in Betracht gezogene Ausbürgerung von Straftätern weniger eine symbolische oder dramatische Dimension denn eine effizient praktische. Das "tadellose Verhalten" könnte einer der Filter sein, um den Einbürgerungsantrag zuzulassen und eventuell auch noch eine bestimmte Zeit nach der vollen Einbürgerung des Zuwanderers gelten.

Zuwanderung ist heute eines der sensibelsten Themen überhaupt. Umfragen zufolge erklärt sich Mehrheit der Wähler in vielen Ländern besorgt und fühlt sich von ihr bedroht. Bei den letzten Europawahlen haben fremdenfeindliche Parteien fast überall zugelegt. Es besteht die Gefahr einer Spirale einer Ideologisierung, nicht nur seitens der Bürger, sondern auch seitens der "Ausländer" (wie in Frankreich zu sehen). Wir wissen, dass die europäische Wirtschaft und Sozialsysteme nicht ohne Zuwanderung auskommen. Wir wissen auch, dass in unseren Ländern zahlreiche Zuwanderer legal leben (mit einer wachsenden Anzahl von Kindern), die sich ausgezeichnet in unsere Gesellschaften integriert haben. Integration ist nicht nur möglich, sie bringt auch allen Vorteile. Eine neue Staatsbürgerschaftspolitik kann viel dazu beitragen, um diesen Prozess zu erleichtern und das Risiko heikler Radikalisierungen einzudämmen. (js)

Aus Frankreich

Sarkozy gibt wieder den Supersheriff

Der Ende Juli vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy unterstellte Zusammenhang von Zuwanderung und Kriminalität, sowie dessen Vorschlag Straftätern ausländischer Herkunft, die Ordnungshüter angreifen, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, hat eine neue, heftige Zuwanderungs- und Einbürgerungsdebatte ausgelöst. Opposition und Presse laufen Sturm. Libération siehtin dem "rechtsextremen Ausrutscher" einen Vorläufer auf die kommende Wahlkampagne für die 2012 anstehenden Präsidentschaftswahlen. Sarkozy hätte wieder das Kostüm des "Supersheriffs" übergezogen, was ihm 2007 schon so gut gestanden hatte.

Le Monde beklagt "die schwerwiegenden Worte" des Staatschefs und spricht von einem "gravierenden Fehler" des Präsidenten. Die Tageszeitung meint, dass Sarkozy dazu auffordert, den Artikel 1 der Verfassung zu umgehen, der die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz garantiert und prangert "die ebenso ekelhafte wie verwerfliche Sündenbockpolitik" an. Die "Verquickung von Kriminalität und Immigration" käme nach einer "sicherheitspolitischen Eskalation", die sich als "wirkungslos" herausgestellt habe, seien doch, erinnert Le Monde, "Übergriffe und Gewalt auf Personen zwischen 2003 und 2006 als Sarkozy selbst Innenminister war um 16 Prozent gestiegen."

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