Während einer Demonstration gegen die Sparpolitik, in Lissabon am 4. Oktober 2012

Wie Europa 30 Jahre verliert

In den von der Krise am schwersten gebeutelten Ländern wird es mehrere Jahre dauern, um den einstigen Lebensstandard wieder herzustellen. Der Abstand zu den Ländern, die besser mit der Situation zurechtkommen, wird dadurch nur noch größer und das gefährdet die Einheit und die Stabilität der Union.

Veröffentlicht am 23 November 2012 um 12:21
Während einer Demonstration gegen die Sparpolitik, in Lissabon am 4. Oktober 2012

Schon 2009 warnte Angela Merkel, man dürfe keine Wunder erwarten, denn keine politische Entscheidung, so mutig sie auch sei, könne den Zusammenbruch der europäischen Wirtschaft abwenden. Sie stand damals sehr alleine da mit ihrem Blick in Zukunft. Heute stellen wir fest, dass sie Recht hatte, meint Nicolas Veron, Experte vom Brüsseler Bruegel-Institut. Fünf Jahre nach Ausbruch der Krise ist die wirtschaftliche Lage der EU immer noch kläglich: Nicht weniger als 17 der 27 Mitgliedsstaaten befinden in einer Rezession.

In den am härtesten getroffenen Ländern, wie Spanien oder Portugal, wird es mindestens eine Generation dauern, bis der momentane Verlust von Lebensqualität wettgemacht sein wird. Eine so lange Zeit könnte sich für die EU als untragbar herausstellen. Zum ersten Mal seit ihrer Entstehung droht der Europäischen Union, im Gegensatz zur Eurozone, der Zusammenbruch. Jeden Monat zeichnet sich diese Möglichkeit ein bisschen deutlicher ab, ohne dass klar gesagt werden kann, welches Szenario sich durchsetzen wird – der Aufbau eines verstärkten Eurolands rund um Deutschland oder der Zerfall des Blocks der euroskeptischen Länder, angeführt von Großbritannien.

Ein gemeinsamer Markt, der keiner ist

Eines ist sicher: Diese Entwicklung hat Angela Merkel nicht gewollt und sie hat auch versucht, sie aufzuhalten. Sie wollte insbesondere, dass die neue, besser integrierte EU Polen und den anderen mitteleuropäischen Ländern einen vollwertigen Platz einräumt. Diese Länder stellen für die Bundesrepublik nicht nur eine Industriegrundlage dar (die deutschen Unternehmen haben einen Großteil ihrer Produktion bereits hierhin ausgelagert), sondern fungieren auch als schätzenswerte Verbündete im Rat der Europäischen Union, wenn sie wie Berlin zugunsten von Strukturreformen und einer verantwortlichen Haushaltspolitik stimmen.

Der Plan für eine solche Union ist jedoch gescheitert. Unter dem Druck der Märkte haben die führenden Politiker der Eurozone die Grundlagen für ein eigenes institutionelles System für die Eurozone gezimmert, mit einer Bankenaufsicht, einer besser kontrollierten Geldpolitik und einem unabhängigen Haushalt. Diese Maßnahmen sollten das Existenzminimum für die gute Funktionsweise der Europäischen Union bilden. Doch heute können wir sehen, dass diese Hoffnung unrealistisch war, wie Cinzia Alcidi vom CEPS (Center for European Policy Studies) einräumt.

Das Beste vom europäischen Journalismus jeden Donnerstag in Ihrem Posteingang!

Die besonders gefährliche aktuelle Situation betrifft den Eckstein der Integration selbst: den gemeinsamen Markt. In den Ländern, deren Wirtschaftslage den Anlegern Vertrauen einflößt, wie Deutschland oder die Niederlande, sind die Darlehen an die Unternehmen viel günstiger als in den Randstaaten. Man kann also nicht mehr von der gleichwertigen Konkurrenz sprechen, auf die Brüssel die letzten 50 Jahre lang hingearbeitet hat.

Das Ende des europäischen Sozialmodells

Ein weiterer Indikator ist das Scheitern des europäischen Modells für einen ähnlichen Lebensstandard innerhalb der Union. Durch die Strukturfonds, aber auch durch den freien Zugang zum EU-Markt für alle Wirtschaftsakteure war es effektiv gelungen, die Ungleichgewichte hinsichtlich des Lebensstandards in den Ländern Europas zu reduzieren. Griechenland beispielsweise konnte sich noch 2009 auf ein Pro-Kopf-Einkommen berufen, das bei 94 Prozent des EU-Durchschnitts lag. Das war gar nicht so viel weniger als das, was Deutschland zu bieten hatte (115 Prozent). Doch heute hat sich der Abstand zwischen den beiden Ländern enorm vergrößert: Der Lebensstandard in Griechenland ist auf 75 Prozent gesunken, vergleichbar mit der Situation in Polen, und in Deutschland auf 125 gestiegen.

Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass sich diese Ungleichgewichte in den kommenden Jahren noch verschlimmern werden. Mit dieser Entwicklung werden die Interessen der Mitgliedsstaaten immer weiter auseinanderklaffen. Während die Rumänen, Bulgaren, Griechen oder Portugiesen versuchen, das Überleben ihrer Bevölkerung zu garantieren, und in Brüssel dieses Problem betonen, werden Deutschland und Schweden den Schwerpunkt eher auf Themen wie den Umweltschutz und die alternativen Energiequellen legen. Sie werden aneinander vorbeireden, so Verons Prognose.

Die Krise fegt auch eine andere große Leistung der Integration vom Tisch: das europäische Sozialmodell, um das uns die ganze bislang Welt beneidete. Die aufeinanderfolgenden Haushaltskürzungen nicht nur in Spanien und Griechenland, sondern auch in Frankreich und Großbritannien verursachen eine drastische Verringerung des Sozialschutzes in Sachen Arbeitsrecht, Renten und Arbeitslosigkeit. Dadurch entsteht eine junge Generation, die keine Aussicht auf feste Arbeitsplätze hat und materiell nicht dazu in der Lage ist, eine Familie zu gründen.

Das Scheitern der gemeinsamen Außenpolitik

Sogar der pro-europäische Spiegel gibt zu, dass sich das Entscheidungszentrum der EU von Brüssel nach Berlin verlagert hat. Dies geschah nicht durch einen besonderen Druck der Deutschen, sondern durch eine Art Ausschlussverfahren. Von den sechs größten Ländern der EU wurden zwei, Italien und Spanien, wegen ihrer riesigen wirtschaftlichen Probleme vom Spiel ausgeschlossen. Großbritannien schloss sich selber aus. Und Polen kann aufgrund seines immer noch zu schwachen Wirtschaftspotentials und dadurch, dass es nicht zur Eurozone gehört, keinen Anspruch auf eine Schlüsselrolle erheben. Eine Zeit lang schien es, als werde Europa vom berühmten deutsch-französischen Tandem „Merkozy“ dominiert. Doch seit der Wahl des neuen französischen Staatspräsidenten François Hollande ist es offensichtlich, dass auch Paris, das mit schweren Wirtschaftsproblemen konfrontiert ist, nicht mehr in der Lage ist, auf gleichem Fuß mit Deutschland das europäische Spiel zu spielen. Berlin bleibt also alleine auf dem Schlachtfeld zurück.

Europa ist auf seine eigenen Probleme fokussiert und kann sich nicht mehr um den Rest der Welt kümmern. Somit ist der Zusammenbruch der gemeinsamen Außenpolitik eine andere dunkle Prophezeiung, die vor unseren Augen wahr wird. Die autoritäre Entwicklung der Ukraine, das Drama in Syrien, der abgebrochene Kampf für die Menschenrechte in China sind nur einige Beispiele für die Machtlosigkeit der EU in der Krise.

Das Thema zukünftiger Erweiterungen der Union wurde ebenfalls beiseite gelegt: Der Beitritt wäre nunmehr nur noch für die Balkanländer innerhalb des EU-Raums vorstellbar. Ein ambitionierteres Angebot, insbesondere an die Länder der ehemaligen Sowjetunion oder die Türkei, ist nicht mehr auf der Tagesordnung.

Das Projekt Europa hat fünf Jahre Krise überstanden. Doch die Verluste sind kolossal und die Europäische Union hat in der Integration Rückschritte gemacht und steht nun wieder Problemen gegenüber, die vor 30 oder 40 Jahren eigentlich bereits als gelöst gegolten hatten. Heute hoffen sogar die Optimisten: Wenn es nur nicht noch dicker kommt!

Tags
Interessiert an diesem Artikel? Wir sind sehr erfreut! Es ist frei zugänglich, weil wir glauben, dass das Recht auf freie und unabhängige Information für die Demokratie unentbehrlich ist. Allerdings gibt es für dieses Recht keine Garantie für die Ewigkeit. Und Unabhängigkeit hat ihren Preis. Wir brauchen Ihre Unterstützung, um weiterhin unabhängige und mehrsprachige Nachrichten für alle Europäer veröffentlichen zu können. Entdecken Sie unsere drei Abonnementangebote und ihre exklusiven Vorteile und werden Sie noch heute Mitglied unserer Gemeinschaft!

Sie sind ein Medienunternehmen, eine firma oder eine Organisation ... Endecken Sie unsere maßgeschneiderten Redaktions- und Übersetzungsdienste.

Unterstützen Sie den unabhängigen europäischen Journalismus

Die europäische Demokratie braucht unabhängige Medien. Voxeurop braucht Sie. Treten Sie unserer Gemeinschaft bei!

Zum gleichen Thema