Hier, dort und überall. Die CRS-Spezialeinsatzkräfte vor Demonstranten, die gegen die Wahl Nicolas Sarkozys protestieren, Mai 2007, Paris.

Sarkozy, der Niedergang ins Chaos?

Erst sagte der französische Staatspräsident den "im Ausland geborenen" Straftätern den Kampf an. Dann kamen bestürzende Bilder der Räumung eines von afrikanischen Frauen besetzten Hauses bei Paris. Eine Autorin des Guardian erklärt, Nicolas Sarkozys Mandat stehe für immer grassierendere soziale Unruhen.

Veröffentlicht am 3 August 2010 um 14:24
Hier, dort und überall. Die CRS-Spezialeinsatzkräfte vor Demonstranten, die gegen die Wahl Nicolas Sarkozys protestieren, Mai 2007, Paris.

Sogar gemessen an der "bürgerorientierten" Polizeiarbeit in Frankreich ist das Video erschütternd. Der Film eines Amateur-Kameramanns zeigt die Bereitschaftspolizei im berüchtigten Pariser Außenbezirk Seine-Saint-Denis beim Auflösen einer Demonstration von auf die Straße gesetzten, zum Teil schwangeren Müttern. Die Beamten legen dabei eine Achtung und ein Zartgefühl an den Tag, die normalerweise bodenlastigen Betrunkenen vorbehalten sind. Sie schubsen und stoßen die Protestierenden grob herum und schleifen sie dann mit ihren weinenden Kleinkindern und Babys die Straße hinunter.

Gefilmt wurde das Ganze am frühen Morgen des 21. Juli in einem besonders unberechenbaren Vorort namens La Courneuve, vor dem Wohnblock "Balzac". Das 15-stöckige Gebäude soll abgerissen werden, was Dutzende von Hausbesetzern zu Obdachlosen macht. Viele von ihnen sind junge Mütter, die ursprünglich aus der Elfenbeinküste stammen, und sie wurden hauptsächlich während einer Sitzblockade aufgenommen. Mindestens eine Schwangere fällt in Ohnmacht, während ein kleiner Junge angstschreiend unter seiner Mutter hervorgezerrt wird.

Die bewaffneten, kahlgeschorenen Polizisten hingegen tragen kugelsichere Westen und deutlich sichtbare Abzeichen der CRS – der berühmt-berüchtigten Compagnie Républicaine de Sécurité, die sich einen Namen machte, als sie im Mai 1968 bei den Studenten- und Gewerkschaftsaufständen Staatsfeinde gewaltsam unterdrückte. Aufgrund der Schreie, Tränen und skandierten "Lasst uns in Ruhe!"-Rufe in den Szenen aus La Courneuve werden nun eine Untersuchung der Polizeibrutalität und die Bestrafung aller Beteiligten verlangt.

Der erste Hetzer im Staat heisst: Sarkozy

Obwohl der Fokus hier auf Frankreichs legendären Ordnungshütern liegt, bezweifelt niemand, dass der Mann, auf welchem derzeit der stärkste Verdacht auf Anstiftung zu Rassenhass und Einschüchterung lastet, Präsident Nicolas Sarkozy selbst ist. Man erinnere sich: Dies ist der Politiker, der einst die Störenfriede aus Orten wie La Courneuve als "Pack" bezeichnete, das "durchgekärchert" werden sollte. Als Innenminister schwelgte er in Spitznamen wie "Top-Cop" und entsandte bei den geringsten Anzeichen noch so banaler Spannungen gleich Unmengen von schwer bewaffneten Polizisten.

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Wie schon vorhergesagt, als er 2007 Präsident wurde, ist Sarkozys Regierung von weit verbreiteten sozialen Unruhen geprägt, wozu auch Krawalle wie letzten Monat in der französischen Stadt Grenoble gehören. Dort wurden bei Straßenkämpfen Geschäfte und Autos in Brand gesetzt und es fielen Schüsse zwischen der Polizei und den jungen Leuten. Bei anderen Unruhen im mittelfranzösischen Saint-Aignan stürmten maskierte Banden ein Kommissariat, nachdem ein Zigeuner während einer Verfolgungsjagd mit dem Auto erschossen wurde.

Roma-Ausweisung mit ethnischer Säuberung vergleichbar

Sarkozy schob die Schuld für diese Unruhen sofort auf die Immigranten und kündigte eine weiträumige Initiative an, um sie in ihre Schranken zu weisen. Dies bedeutete einen "Krieg gegen das Verbrechen" mit vom Staat ausgegebenen Schlagstöcken, die gezückt wurden, um das zu regeln, was er als ernsthafte, durch "im Ausland geborene", unerwünschte Personen hervorgerufene "Sicherheitsprobleme" bezeichnete. Sarkozy, der stets radikale Rechtsdenker, ließ auch verlauten, er werde jedem in Gesetzesbruch verwickelten Immigranten sowie auf Abwege gekommenen französischen Bürgern ausländischer Abstammung die französische Staatsbürgerschaft entziehen.

Sozialhilfezahlungen an Immigranten ohne offizielle Papiere sollen überarbeitet und das Mindeststrafmaß für Verbrecher erhöht werden. Nach und nach begann Sarkozys Polizei auch, Zigeunerlager abzureißen, denn der Präsident hatte gelobt, fahrende Roma auszuweisen, und zwar in einer Art und Weise, die schon mit ethnischer Säuberung vergleichbar ist.

Weichziele wie Immigranten attackieren ist keine Lösung

"Wir leiden unter den Folgen von 50 Jahren ungenügender Immigrationsregelungen, was zu einer gescheiterten Integration geführt hat", fügt Sarkozy hilfreich hinzu, falls noch jemand bezweifeln sollte, wen er als die größte Bedrohung für die Stabilität innerhalb der Republik ansieht.

An welcher Stelle genau schwangere Frauen und ihre Kinder in dieser Bedrohung rangieren, gab Sarkzoy nicht bekannt, aber sein Schweigen zum Video aus La Courneuve ist geradezu ohrenbetäubend. Während er sich angestrengt von den zahlreichen Problemen der gescheiterten Administration zu distanzieren sucht, kann man nur hoffen, er kommt durch die herzzerreißenden Schreie verfolgter junger Mütter und ihrer Babys zu der Einsicht, dass das Angreifen von Weichzielen wie verletzbaren Immigranten in keinem Fall eine Lösung ist. (pl-m)

STANDPUNKT

Echos aus Vichy

Für die Süddeutsche Zeitung ist das Fass langsam voll. "Welche neuen Sanktionen drohen einem polygamen Franzosen ausländischer Herkunft, dessen straffälliger und die Schule schwänzender Sohn gegen Bewährungsauflagen verstößt?", fragt die Münchner Tageszeitung. "Wenn es nach Präsident Nicolas Sarkozy und seiner Regierungsmehrheit geht, lautet die richtige Antwort: Der Vater bekommt kein Kindergeld mehr, er muss bis zu zwei Jahre ins Gefängnis und verliert die französische Staatsangehörigkeit."

- "Was wie ein lebensfremder Fall für Jurastudenten wirkt, entspringt den Phantasien der regierenden Rechten", wundert sich die SZ, die die französische Sicherheitsdebatte sehr ernst nimmt. Denn diese wird keineswegs von radikalen Hinterbänklern befeuert, sondern vom Präsidenten höchstpersönlich, gefolgt von seinem Innenminister Brice Hortefeux und Verantwortungsträgern der regierenden UMP-Partei. "All die Einfälle sind mehr als nur ein Beitrag zur Füllung des Sommerlochs", urteilt die Tageszeitung und erinnert daran, dass die Ideen in zwei Gesetzesvorschläge zur inneren Sicherheit und zur Immigration eingehen sollen, die Anfang September dem Parlament präsentiert werden. Frankreich, das seinen Bürgern zuletzt im Vichy-Regime die Staatsbürgerschaft entzog, ist gerade dabei "Franzosen zweiter Klasse" zu schaffen und ignoriert dabei das Prinzip "auch ein schlechter Bürger bleibt ein Bürger".

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