Wo geht's hier raus? Thunfischschwarm vor der spanischen Küste.

Miser Mare Nostrum

Die erste weltweite Studie zur Lage der Ozeane, von der Arktis über die Tropenmeere bis zur Antarktis, liefert ein alarmierendes Urteil: Das Mittelmeer ist das bedrohteste Meer der Welt.

Veröffentlicht am 3 August 2010 um 15:14
Wo geht's hier raus? Thunfischschwarm vor der spanischen Küste.

Die Liste der Bedrohungen scheint schier unendlich. Zerstörung der Biotope, rücksichtlose Überfischung, Umweltverschmutzung, Klimaerwärmung, massiver Einsatz von Kunstdünger und Abwasser bedrohen die rund 17.000 Arten im Mittelmeer. "Und diese Bedrohungen werden sich in Zukunft wahrscheinlich noch verschärfen, insbesondere jene in Zusammenhang mit dem Klimawandel und der Zerstörung der Biotope", meint die Forscherin Marta Coll vom spanischen Forschungsinstitut CSIC und dem Institut für Meeresforschung ICM in Barcelona und Mitkoordinatorin der Studie.

Die Gefahren mehren sich. Jüngsten Studien zufolge, die im Rahmen des Projekts Census of Marine Life (wörtlich: "Volkszählung der Meere") durchgeführt wurden, hätten sich mehr als 600 "fremde" Arten im Mittelmeer verbreitet. Mehr als die Hälfte davon käme über den Suezkanal aus dem Roten Meer; weitere 22 Prozent mit Schiffen aus allen erdenklichen Teilen der Welt. Ein Zehntel sei aus Aquakulturen "entwischt".

Chaos im Mittelmeer

Die Folgen dieser Eindringlinge im Mittelmeer sind schwer zu ermessen. Die Autoren der Studie, die am 2. August in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift PLos ONE veröffentlicht wurde, verweisen auf den Fall der Meerwalnuss, Mnemiopsis leidyi, eine Quallenart, die mit Schiffen aus dem Nord-West-Atlantik ins Mittelmeer gelangte und seit 2009 von Spanien bis Israel verbreitet ist. In den 1980er Jahren wüteten diese Quallen im Schwarzen Meer und verursachten einen starken Rückgang der Sardellen-Populationen, was gravierende wirtschaftliche Folgen hatte.

Viele dieser invasiven Tierarten stammen aus tropischen Gewässern und profitieren von den steigenden Wassertemperaturen. In der 1980er Jahren lag die Temperatur an der Wasseroberfläche bei 16,25°C an der westlichen Mittelmeerküste und bei 22,75°C an der östlichen. Nun schätzen aber Wissenschaftler, dass bis 2050 die Temperatur in einigen Gebieten auf über 24°C ansteigen könnte, unterstreicht Bhavani Narayanaswamy, Sprecherin des Census of Marine Life.

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Gefährdetste Art: die Kaltwasserkoralle

"Zu den am meisten bedrohten Arten im Mittelmeer gehören die Kaltwasserkorallen. Sie sind unfähig, der Erwärmung der Gewässer zu entkommen. Ihre Populationen gehen zurück", klagt Bhavani Narayanaswamy und befürchtet gar ein "regionales Aussterben."

Die Initiative Horizont 2020, die vor vier Jahren von der Europäischen Kommission ins Leben gerufen wurde, ähnelt nun fast einer Rettungsaktion des Mittelmeers. Das Ziel ist ehrgeizig: Die Umweltverschmutzung drastisch zu reduzieren. Die EU-Exekutive liefert selbst die Zahlen über das Ausmaß dieser Herausforderung. Mehr als 140 Millionen Menschen leben an der gesamten Mittelmeerküste. Dazu kommen rund 175 Millionen Touristen pro Jahr. 2025 wird mehr als die Hälfte des Litorals zubetoniert sein. Nach Angaben der Kommission stammen 80 Prozent der Gefahren für die Meeresorganismen direkt vom Festland. Mehr als die Hälfte der Städte mit mehr als 100.000 Einwohnern haben keine Kläranlagen. 60 Prozent des Abwassers fließt direkt ins Meer.

75 Prozent der Meeresbewohner schwimmen im Unbekannten

Bhavani Narayanaswamy zeigt sich dennoch skeptisch: "Ich bin mir nicht sicher, ob die Verringerung der Emissionen aus Industrie, Landwirtschaft und urbanen Zentren ausreichen wird, dass aus dem Ökosystem Mittelmeer wieder das wird, was es einst war."

Für Josep María Gasol, ein weiter Koautor und Forscher beim ICM in Barcelona, "war es das Erstaunlichste festzustellen, dass wir im Grunde nichts wissen." Bei den neuen Zahlen der Artenzählung im Mittelmeer sprechen die Wissenschaftler von 17.000 Meeresorganismen im Mittelmeerraum, doppelt so viele wie bei der letzten Zählung. Dabei sind noch 75 Prozent der Arten, die in den Tiefen des Mittelmeers leben unerforscht — sie könnten aussterben, ohne dass überhaupt jemand die Alarmglocke zieht. (js)

Fossile Brennstoffe

Moratorium für Bohrungen im Mittelmeer

Die italienische Umweltministerin appelliert an die 21 Mittelmeer-Anrainerstaaten, sich für ein Moratorium bei gefährlichen Bohrungen für Erdöl und Erdgas im Mittelmeer auszusprechen (insbesondere bei den gefährlichen Tiefseebohrungen für Erdöl oder Gas unter hohem Druck oder hohen Temperaturen). Nach der Explosion der BP-Plattform im Golf von Mexiko und der darauffolgenden Umweltkatastrophe könnte ein Moratorium "Europa die Zeit verschaffen, eine neue, mittelmeerspezifische Strategie zu entwickeln", erklärt Il Sole 24 Ore. Der neue italienische Vorstoß sei nicht ganz so restriktiv wie derjenige des Energie-Kommissars Günther Oettinger vom vergangenen Juli, führt die italienische Tageszeitung fort, die meint, dass sich der italienische Appell vor allem auf die von BP geplanten Tiefseebohrungen vor Sirte an der libyschen Küste, unweit Siziliens, beziehe.

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