Straßenschild in Paris, bearbeitet vom Künstler Clet Abraham.

Brüssel im Dunst der Tabakmultis

Seit dem Rücktritt von EU-Gesundheitskommissar John Dalli häufen sich die Fragen über den Einfluss der Tabaklobby innerhalb der EU. Wurde er Opfer einer Intrige? Und wie weit gehen die Verbindungen der Multis in Brüssels Antikorruptionsbehörde Olaf?

Veröffentlicht am 30 November 2012 um 16:18
Straßenschild in Paris, bearbeitet vom Künstler Clet Abraham.

Wer sich mit Lobbyisten der Tabakindustrie in Brüssel trifft, braucht starke Nerven, auch als gelegentlicher Raucher. Kaum hat der Gast Platz genommen, muss er nicht lange warten, bis ihm eine Unternehmensvertreterin des US-Konzerns Philip Morris („Marlboro“, „L&M“) eine Zigarettenpackung in die Hand drückt. Statt des Markennamens ist das Foto eines Mannes aufgedruckt, dem ein Krebsgeschwür am Hals wächst.

„Das ist Rufmord“, sagt die Philip-Morris-Sprecherin und zeigt eine weitere Packung mit dem Foto eines anderen Tumorkranken. Die EU-Kommission, schimpft die Lobbyistin, wolle solche Bilder künftig auf jede Schachtel drucken lassen und so die Verbraucher schocken. Dann zündet sie sich genüsslich eine Zigarette an.

Die Tabakindustrie klagt nicht nur vor Journalisten über die Brüsseler Pläne. Ihr gelingt es offenbar auch, großen Einfluss auf Teile der EU-Kommission zu gewinnen. Dem SPIEGEL liegen interne Unterlagen vor, die belegen, dass enge Mitarbeiter des EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso gegen eine Verschärfung der Tabakrichtlinie vorgingen. Auch der Chef der europäischen Antibetrugsbehörde Olaf hatte Bedenken gegen schärfere Auflagen für die Zigarettenindustrie. Barroso und die Brüsseler Betrugsbekämpfer spielten zudem eine aktive Rolle beim Rücktritt des EU-Gesundheitskommissars John Dalli vor einem Monat.

Es gebe „keine klaren Beweise“ gegen Dalli, konzidierte Olaf-Chef Giovanni Kessler vor dem Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments, aber die „Umstände“ sprächen gegen ihn. Den Olaf- Bericht will Barroso dem EU-Parlament und der Öffentlichkeit vorenthalten. Nun nähren die neuen Dokumente den seit Wochen in Brüssel umlaufenden Verdacht, dass Dalli einer Intrige zum Opfer gefallen sein könnte. Unstreitig ist, dass der Ex-Gesundheitskommissar und Ex-Kettenraucher Dalli die geltende Tabakrichtlinie drastisch verschärfen wollte. Für eine Vielzahl von Nikotinprodukten, so sah sein Entwurf vor, sollten Verkauf und Werbung drastisch beschränkt werden.

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Barrosos engste Mitarbeiterin bremst

Doch Kommissionspräsident Barroso hatte es offenbar nicht besonders eilig, die Pläne umzusetzen. Catherine Day, als Generalsekretärin der EU-Kommission die mächtigste Frau in Brüssel, kümmerte sich mehrmals persönlich darum, Dallis weitgehende Vorschläge auszubremsen.

Am 25. Juli schickte Day, seit sieben Jahren die engste Vertraute Barrosos, einen zweiseitigen Brief an die Chefin von Dallis Gesundheitsdirektion Sanco, dessen Absender auch die Tabaklobby hätte sein können. Sie habe „ernsthafte Bedenken“ wegen der Richtlinie. Die Vorbehalte der Irin betrafen viele Kernpunkte von Dallis Reform. Sie kritisierte „den allgemeinen Bann von rauchlosen Tabakprodukten“, sie stellte „die Behandlung von nikotinhaltigen Produkten“ in Frage und erhob Bedenken gegen „die vorgesehenen Bestimmungen beim Zigarettenverkauf“.

Am 23. September wandte sich die resolute Irin in einer E-Mail noch einmal an Paola Testori Coggi, die Generaldirektorin der Gesundheitsbehörde. Day verlangte, dass die Richtlinie nicht vor dem Treffen der EU-Regierungschefs Mitte Oktober eingebracht werden solle. Details des Papiers könnten sonst durchgestochen werden. Vor dem Treffen der Regierungschefs wünsche man keine kontroverse Diskussionen, schrieb Day.

Das wiederum konnte Coggi nicht verstehen. Wichtige Details des Dalli-Plans waren längst bekannt geworden und hatten die Tabakindustrie in Panik versetzt. Man wolle möglichst bald den nächsten Schritt unternehmen, damit die Vorschläge bis Ende des Jahres von der EU-Kommission verabschiedet werden könnten.

Gemeinsamer Kampf gegen Zigarettenfälscher

Mittlerweile ist klar, dass sich die Tabakrichtlinie wegen Dallis Rücktritt noch viel länger verzögert. Ob die Richtlinie bis zum Ende der Amtszeit der jetzigen Kommission 2014 verabschiedet werden kann, ist höchst ungewiss. Zuvor will der Haushaltskontrollausschuss des EU-Parlaments die Rolle von Barroso und der Antibetrugsagentur Olaf aufklären. Der Ausschussvorsitzende Michael Theurer [meint], es sei „inakzeptabel“, dass Barroso den Olaf-Bericht nicht herausrücke. Eine effektive demokratische Kontrolle sei so nicht möglich. Notfalls müsse ein Untersuchungsausschuss die Sache aufklären.

Ein Großteil der Fragen betrifft Olaf. Olaf und die Zigarettenindustrie sind eng verbandelt, wie Behördenchef Kessler im Sommer dieses Jahres in einem Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments einräumte. Es bestünden Verträge zwischen der EU-Kommission und Firmen wie Philip Morris und British American Tobacco. Im Kampf gegen Schmuggler und Zigarettenfälscher profitiert Olaf von Informationen der Industrie.

Die Tabakmultis unterstützen auch mit Geld die Arbeit der Ermittler. Insgesamt gehen gut zwei Milliarden Euro an die EU. Der Erfolg der Zusammenarbeit ist unbestreitbar. So gelang es Olaf beispielsweise in einer Ermittlungsaktion, 70 Millionen Zigaretten zu beschlagnahmen und 35 Verdächtige dingfest zu machen.

Aber bringt die Kooperation mit den Zigarettenfirmen die Ermittler möglicherweise in eine allzu große Nähe zur Industrie? Gibt es gar Nebenabsprachen mit Brüssel, bei der Regulierung nicht ganz so hart zuzupacken?

Manche [EU-]Abgeordnete wollen mittlerweile nicht mehr an Zufall glauben, dass Olaf-Chef Kessler mitunter ähnlich argumentierte wie die Zigarettenindustrie. In der undurchsichtigen Affäre geht es längst um mehr als um den rätselhaften Rücktritt eines maltesischen Gesundheitspolitikers. Es geht um die Glaubwürdigkeit der gesamten EU-Kommission. Ihr Präsident muss die Fragen der Parlamentarier nun rasch und umfassend beantworten. Sonst könnte aus der Affäre Dalli schnell eine Affäre Barroso werden.

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